Die unbändige Angst, normal zu sein

Vorwort:

Es ist ein wenig unheimlich.

19.10.2015, 14:00 Uhr: Gerade eben wurde mir angezeigt, dass Alice Greschkow vor zwei Stunden einen weiteren Artikel ihrer Serie „Paradoxe Jugend“ veröffentlicht hat. Etwa zur selben Zeit habe ich mich hingesetzt und begonnen, diesen thematisch ziemlich passenden Artikel hier zu schreiben.

Darf man so wenig Text schon als Vorwort bezeichnen? Vermutlich nicht, aber ich mache es einfach. Weil ich so anders bin. Perfekte Überleitung zum eigentlichen Thema. Denn:


Es ist schwierig geworden, heutzutage einer bestimmten sozialen Gruppe anzugehören. Das liegt nicht daran, dass es kaum Angebote gibt und es nichts gäbe, mit dem man sich identifizieren könnte. Das Problem dürfte damit zu begründen sein, dass es eine solche Masse an Alternativen gibt, dass es beinahe unmöglich ist, sich für eine Sache zu entscheiden. Daraus folgt gelegentlich ein Prozess, der Gefahr läuft, im Paradoxen zu enden. Es fällt auf, dass in den letzten Jahren immer häufiger von dieser oder jener Volkskrankheit geschrieben wurde. Allen voran die in meinen Augen mittlerweile zur Ausrede verkommene Diagnose „Burnout-Syndrom“. Es gibt die Fälle von Leere und Kraftlosigkeit, die dieser Diagnose wohl auch entsprechen und ich wünsche das niemandem.
Allerdings wird dieser Befund derart inflationär verwendet, dass es kaum jemand mehr ernstnehmen kann. Es mutet albern an, wenn der kleine Max oder die kleine Josephine in einem Bericht über alternative Schulformen davon erzählt, dass er am Ende der zweiten Klasse kurz vorm Burnout stand, weil der Leistungsdruck zu hoch war. Schon die Wortwahl ist für ein 8-jähriges Kind durchaus ungewöhnlich, weshalb sich mir die Frage aufdrängt: Warum benutzt ein Grundschüler, als wäre es selbstverständlich, Vokabeln wie „Arbeitspensum“, „Leistungsgesellschaft“ und „alternative Lernkonzepte“? Nun möchte ich keinem unterstellen, dass er nicht auch schon im Grundschulalter reges Interesse an Krankheitsbildern und deren Ursachen an den Tag gelegt hat. Aber es ist doch schon eher ungewöhnlich, dass ein Kind in dem Alter unfallfrei Schlagworte verwendet, die in Artikeln zu finden sind, die nicht zwangsläufig dem altersgemäßen Lektürestandard entsprechen. Vielleicht ist das aber auch der Einfluss der Eltern, die ihr Kind zu etwas ganz Einzigartigem machen wollen. Und das führt zu einer etwas eigenartigen Entwicklung.

Wir identifizieren uns über unsere Probleme. Das ist meiner Meinung nach auch kein Wunder, wenn schon von klein auf die Kritik an allem, was schädlich sein könnte, auf der Tagesordnung stand. Denn im Zuge der Kritik wurde der entsprechende Störfaktor möglichst eliminiert. Soll heißen: Haben die Eltern das Gefühl, dass die Kinder viel zu viel zu tun haben, muss die Schule gewechselt werden. Über die Gründe wird nicht lange geforscht. Sie sind ohnehin bekannt: Schule und Lehrer verweigern die individuelle Förderung. Alles muss speziell auf das einzelne Kind zugeschnitten werden; am besten aufs eigene. Haben die Eltern das Gefühl, dass dem kleinen Justin die normale Milch heute aber so gar nicht bekommt, wird sie durch laktosefreie ersetzt. Aus Verdacht. Aus Angst, dass diese böse Milch – von der ja überall geschrieben und berichtet wird – dem Organismus schadet. Sowas setzt sich unterbewusst fest und fort.
Unverträglichkeiten sind zum Statussymbol geworden. Das trifft längst nicht auf jeden zu, der davon betroffen ist, aber dieser Artikel befasst sich auch vielmehr mit denjenigen, die ihre Defizite wie ein Plakat vor sich her tragen. Die nur darauf warten, etwas an sich zu entdecken (oder sich anzudichten), was sie endlich ganz und gar einzigartig macht.

„Ich war ja schon immer irgendwie anders. Bin immer schon gegen den Strom geschwommen.“

Das ist übrigens ein Grund, weshalb ich glaube, dass wir Menschen uns nicht mehr als Teil der Natur begreifen. Kein Tier der Welt würde absichtlich seine Schwächen präsentieren. Denn damit signalisiert es jedem Konkurrenzwesen:

„Hier bin ich! Schaut her! Ich bin verwundbar! Greift mich an!“

Aus irgendeinem Grund gibt es aber Menschen, die aus ihrer Schwäche eine Identität machen. Es bleibt nicht bei der simplen Erklärung, dass man dies oder das nicht essen kann. Das ist lediglich der Aufhänger für das eigene Selbstverständnis, das sich irgendwo zwischen „Das Schicksal ist gegen mich“ und „Ich bin etwas ganz Besonderes“ befindet.

Völlig kurios wird es, wenn man sich auf Alltagsgespräche einlässt und mal ganz gezielt darauf achtet, welche Nichtigkeiten als Problem dargestellt werden. Das ist ein weit verbreiteter Topos, den man wohl am besten mit den Worten „An jeder noch so tollen Sache ist irgendetwas so vollkommen scheiße, dass es alles andere in den Schatten stellt“ zusammenfassen kann. Es ist wohl notwendig geworden, bei allem die schlechten Seiten nicht bloß zu sehen, sondern auch explizit darauf hinzuweisen.

„Flug nach Hawaii hat Verspätung! #warjaklar #warumimmerich“

„Toll! Überall Sand am Körper! #urlaubshorror“

„Na super! Im Lotto gewonnen. Könnt ihr euch vorstellen, was ich jetzt an Steuern abdrücken muss?! #typischfürmich“

Es ist einigen anscheinend nicht mehr möglich, sich über etwas zu freuen. Außerdem ist es auch nicht mehr möglich, mit Problemen umzugehen. Sie müssen thematisiert werden, zum Zentrum der Persönlichkeit werden. Man markiert seine Unzulänglichkeiten, um irgendwie herauszustechen. Woran mag das liegen? Vielleicht gibt es mittlerweile zu viele Lebensentwürfe und jeder möchte irgendwie anders sein. Wenn man sich umhört, dann stellen sich viele so dar, als wären sie vor allem eines: nicht normal. Das beginnt bei der Aussage, dass man ja total ausgeflippt und crazy sei, und führt über die Angewohnheit, nur Dinge zu essen, die keinen Schatten werfen, eben zu dem Trend, die körperlichen Gebrechen als persönliches Wasserzeichen zu deuten. So hat man wenigstens immer was zu reden.

„Ach, du auch?! Ja, aber bei mir ist das ja noch schlimmer.“

Und wenn man sich die Kandidaten mal anschaut, dann sind sie unter der aufgedrehten und betont weltmännisch wirkenden Oberfläche oft vor allem nur Folgendes: genau dieselben Schnarchnasen wie jeder andere auch. Und das ist eigentlich nichts Schlimmes. Das ist normal. Man muss es sich nur erlauben. Ich kann das mit ruhigem Gewissen behaupten, denn ich bin schließlich auch so ein Kandidat. Aber ich bin mir darüber zumindest im Klaren.


Beitragsbild von http://whatscuttlebutt.com. Woher die das haben? Keine Ahnung.

13 Kommentare

  1. Amen! Vor allem die, die meinen überall rumposaunen zu müssen, wie crazy sie doch sind gehen mir tierisch auf den Senkel…hab ich mich auch schon drüber ausgelassen (wobei einmal da nicht reicht…)

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  2. Tja, wenn man keine Talente hat, muss man eben andere durch die schlimmere Allergie, die schwerwiegendere Erkrankung oder dergleichen übertrumpfen… . Ich war mal länger im Krankenhaus – da ging das nur so. Ich hab ja das und das und noch das – hab ich auch – Ja, aber ich musste schon operiert werden – also, ich muss bald zweimal operiert werden – ja, aber ich muss pro Tag soundso viele Tabletten nehmen [to be continued endlessly].
    Nervnervnerv! Get yourselves a selbstwert somewhere, ey… .

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