Anspruch und Realität – Das Mysterium moderner Medien

Man hört und liest ja immer wieder davon, dass Autoren an bestimmte Beiträge eine gewisse Erwartungshaltung an den Tag legen, die kurioserweise selten erfüllt wird. Was dem Leser gefällt, ist nicht zwangsläufig ein in den Augen des Verfassers Prachtexemplar seines Schaffens. Andersherum gilt ebenso, dass ein vermuteter Knallerbeitrag gelegentlich nur wenig Resonanz hervorruft. Ein solcher verließ vor zwei Tagen diesen Textbahnhof.

14.01.2016

08:52 Uhr

Ich kehre nach einem Lauf über 15 Kilometer bei anfänglicher Finsternis und späterer herrlich grauer Wolkendecke nach Hause zurück und finde die Frau, die in unserer Wohnung lebt, in heller Aufregung vor. Das hat zwei Gründe, wovon einer vollkommen nichtig ist.

  1. Ihr steht ein Zahnarztbesuch bevor, der sie nur schlecht hat schlafen lassen.
  2. Ein um halb sieben veröffentlichter Artikel mit brisantem Inhalt auf dem wohl meisten Blog Deutschlands wurde noch nicht kommentiert, geschweige denn mit einem gefällt mir versehen.

Ich mahne zur Gelassenheit. Es ist noch früh.

08:54 Uhr

Die Frau gerät in Panik, weil sie befürchtet, dass der Artikel samt brisantem Inhalt den Leuten nicht gefällt und deshalb niemand interagiert. Ich stehe derweil auf der Waage im Badezimmer, schiebe ihre Panik auf prä-zahnärztliche Hysterie und freue mich über verlorenes Gewicht bzw. eine defekte Waage. Beides ist mit einer angenehm niedrigen Zahl verbunden. Heute ist ein guter Tag. Mal sehen, was nachher die Statistiken sagen.

08:56 Uhr

Ich fahre meinen leistungsstarken Rechner hoch und vertreibe mir die Zeit des Wartens mit der Fütterung der heimischen Haustiere. Sie bedanken sich, indem sie die frisch gefüllten Näpfe umwerfen und mich wüst beschimpfen. Ich verlasse das Wohnzimmer und hole mir einen Kaffee aus der Küche. Die neue Kaffeemaschine passt farblich haargenau zum Mülleimer. Eines Tages werden sich diese beiden bestimmt näher kennenlernen. Vermutlich exakt an dem Tag, an dem die Garantie der Maschine abläuft. Doch selbst im Zustand der Entsorgung würde die Kaffeemaschine farblich mit dem Mülleimer harmonieren. Vermutlich sind es vollkommen unterschiedliche Farbtöne, die absolut gar nicht miteinander harmonieren, aber Männer unterscheiden bekanntlich weniger Farben als Frauen.

08:58 Uhr

Die Zugriffswerte lassen tatsächlich insgesamt zu wünschen übrig. Muss nichts heißen. Trotzdem: Ein Telefon muss her!

08:59 Uhr

Ich rufe bei der Marketingabteilung der Dampfbloque Entertainment Group an:

„Damfblock Ennertähnmänt Gruhp, mein Name ist Jochen…“

„Halt die Backen! Ich muss den Chef-Strategen sprechen!“

„Mit wem spreche ich denn?“

„Der Autor. Ist dringend. Das Volk ist träge und verweigert die virtuelle Interaktion.“

„Oha! Ich verbinde…“

(Beethovens „Für Elise“ ertönt)

„Chef-Stratege, wer drängt sich auf?“

„Und hier der Autor. Hör mal, die Zahlen sind nicht wirklich berauschend.“

„Schon geworben?“

„Hatte ich für nachmittags geplant, weil ich dachte, dass der Beitrag stark startet.“

„Wir könnten es auch aussitzen.“

„Ungern.“

„Dann starte mal eine Werbeoffensive und streu auf Facebook. Aber es gibt Gründe für den schlechten Stand.“

„Ach?!“

„Du hättest die fette Schweinefrau nicht sterben lassen dürfen. Die Leserschaft war schockiert.“

„Aber die ist ja nunmal gestorben. Sowas denke ich mir doch nicht aus. Außerdem ist der aktuelle Beitrag doch wohl wahnsinnig cool.“

„Jaja, kann sein. Wie auch immer. Du machst das schon. Tschüss.“ 

Ich mache das schon und verbreite den neuen Artikel bei Facebook. Außerdem bin ich nun klüger, weil ich endlich weiß, wie man den unsäglichen Titel meines Blogs ausspricht. Das scheint nicht nur mir unklar zu sein, wie ich gestern erfahren musste.

09:07 Uhr

Die Frau, die in unserer Wohnung lebt, befürchtet, dass das Video im aktuellen Beitrag einfach für andere Leute nicht so lustig ist. Ich halte das für unwahrscheinlich, weil meine Leserschaft ausschließlich aus Menschen besteht, die über ein äußerst feines Gespür für subtilen Witz und Humor verfügen. Außerdem ist es technisch und die Dramaturgie betreffend exzellent umgesetzt.

09:11 Uhr

Die Frau, die in unserer Wohnung lebt, fönt sich die Haare, was die Katze zum Anlass nimmt, auf dem seit Weihnachten eigenartig glatten Fußboden zu beschleunigen. Es misslingt zunächst, woraufhin sie sich in einen Waschbären verwandelt. Zumindest hat sie nun einen buschigen Schwanz. Ihre Pfoten finden doch noch Haftung und ein viereinhalb Kilogramm schwerer, waschbärenartigen Gummiwürfel schießt ins Wohnzimmer, passiert den nicht nadelnden (!) Weihnachtsbaum und springt eine Wand hoch. Ich habe von dem nur wenig mitbekommen, weil ich die Befürchtung habe, dass mit dem Video im Beitrag eventuell etwas nicht stimmt.

09:12 Uhr

Bei Facebook werden die geteilten Inhalte mit einem hochgereckten Daumen versehen. Zumindest eine treue Seele ist auf den Beitrag aufmerksam geworden. Oder gemacht worden.

09:14 Uhr

Hoffentlich läuft das Video vernünftig…

09:15 Uhr

Begutachtung des Videos zwecks Überprüfung auf Fehler, Ruckler etc.

09:17 Uhr

Video in Augenschein genommen. Es ist sehr, sehr gut. Unser Humor ist einwandfrei. Mit den Leuten stimmt irgendwas nicht.

09:19 Uhr

Erneuter Blick auf die Blogstatistik. Irgendwie ist mal wieder der Wurm drin. Die Zugriffszahlen steigen, während nach wie vor die selbe Anzahl Besucher registriert wurde wie vor zwei Stunden. WordPress scheint kaputt zu sein. Ich beschließe, da mal hinzufahren. Wo wohnt WordPress?

09:23 Uhr

Erster Kommentar, erster Klick auf gefällt mir. Erste Erleichterung, die nicht auf sebstbetrügerischer Selbstbeweihräucherung beruht.

10:00 Uhr

Mit einem winselnden Bündel, das stark an einen weiblichen Menschen erinnert, der offensichtlich in der gemeinsamen Wohnung lebt, wird zum Zahnarzt gefahren. Die Sorgen über schlecht laufende Beiträge werden vorerst verdrängt.


Hirnwechsel. Nun schreibt die Frau.

12:04 Uhr

Nach zahnarztbesuchlicher Euphorie (war ja gar nicht so schlimm; völlig umsonst drei Tage lang nicht schlafen und essen können!) schlagartige Ernüchterung beim Blick auf des Mannes neueste Blog-Veröffentlichung. Was ist nur mit den Leuten los? Waren die Schimpfworte im Artikel vielleicht doch zu hart für zartbesaitete Leserseelen?

(kurzer Wortwechsel an dieser Stelle:

Er: „‚Zartbesaitete‘ schreibt man zusammen, ne?“

Sie: „Deine Mutter [Deutschlehrerin, Schulleiterin und auch sonst ziemlich klug] würde es glaub ich auseinander schreiben.“

Er: „Deine Mutter würde es auseinander schreiben!“

Wortwechsel Ende.)

12:08 Uhr

Eine datenvolumenschonende Heimfahrt beginnt. Hierzu sei nur anzumerken: Ich verachte Frauen, denen das Reißverschlussverfahren nicht bekannt ist. Vor allem solche in kleinen, quietschgrünen Knutschkugeln mit Geburtsjahr im Kennzeichen. Und das gründet sich nicht auf Vorurteilen, sondern auf langjährigen empirischen Erhebungen.

13:51 Uhr

So, und warum haben jetzt immer noch nicht mehr Leute dieses unsagbar geniale und hochhumorige Video lobgepreist? Die hatten doch jetzt alle schon Mittagspause. Als ob man da was Besseres vorhaben könnte. Pah!


wiederum Hirnwechsel

16:09 Uhr

Die Frau ist empört, weil ihre winterliche Ordnung auf dem Balkon kritisiert wurde und möchte deshalb keinem weiteren Hirnwechsel zustimmen. Just in diesem Moment werde ich von der Seite darauf hingewiesen, dass sich das ziemlich kritikunfähig liest. Sie lebe lediglich nach dem Grundsatz, dem auch ihre Oma gefolgt war: „Ordnung ist die Lust der Vernunft, Unordnung ist die Wonne der Phantasie.“ (Paul Claudel)
Ich verspreche, das mit der Empörung umzuschreiben. Ich werde es vergessen. Jetzt habe ich wieder daran gedacht. Ich lasse es trotzdem stehen. So schlecht schläft man auf dem Sofa schließlich auch nicht.

17:28 Uhr

Ich teile das Video direkt bei Facebook und poste den Link zum Artikel dazu. Man muss die Leute zu ihrem Glück zwingen, zumal das die Zeit der Berufspendler ist, die sich ebendiese auf ihrem Smartphone vertreiben.

17:38 Uhr

Positiver Kommentar bei Facebook. Ich freue mich und möchte antworten. Die Lektorin soll die Antwort lektorieren. Ich lese vor:

„Vielen Dank. Ja, inhaltslose Erzeugnisse liegen mir.“

„Moment, das war doch ich!“

„Ok. Dann: ‚Inhaltslose Erzeugnisse liegen ihr.'“

„Na toll! Das klingt jetzt wie eine Beleidigung.“

„Ja…kommt hin.“

19:02 Uhr

Enter gedrückt.

19:04 Uhr

Der Vorteil von getrennten Bettdecken ist der, dass ich meine mitnehmen kann und heute Nacht auf dem Sofa nicht frieren werde.


Selbstverständlich ist der Eintrag von 19:04 Uhr lediglich ein Griff in die Instrumentenkiste eines Dramaturgen. Die Frau, die in unserer Wohnung lebt, funkt humormäßig auf einer sehr ähnlichen Frequenz wie ich. Das war vor einigen Jahren ein Auswahlkriterium. (So, jetzt darf ich wieder im Bett schlafen.)

10 Kommentare

  1. Auch mit diesem Beitrag kommt dein scharfsinniger Humor samt journalistisch ausgereifter Dramaturgie zum Vorschein … oder Anschein, als eine Art Sonnenschein auf deinem Blog? Wie auch immer – ich habe mich sehr gut unterhalten gefühlt, bei und mit meinem Morgenkaffee. Danke dafür 🙂

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  2. Ich denke auch, dass Humor ein wichtiges Auswahlkriterium ist… Wobei ich auch die Momente liebe, wo jemand Ironie oder Sarkasmus nicht versteht und sich geschockt und seitwärts davonschleicht, wie eine Katze vor einem Staubsauger! Zum Glück kann ich mittlerweile sagen „das ist mein Blog“ und dann die Reaktion abwarten. Ist fast wie ein Aufnahmetest für’s Gegenüber und eine Erleichterung für mich 😉

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  3. Nicht zu viele Leser zu haben, bringt auch Vorteile mit sich. Der Austausch mit den anderen Menschen oder besser die Zeit, die selbiger braucht, ist überschaubar.

    Mir gefällt dein Humor 🙂

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  4. Es soll ja Menschen geben, die erst auf Traffic hoffen dürfen, sobald die bessere Hälfte den Eintrag gelesen hat. Da ist doch schon gut, dass die Frau in deiner Wohnung sogar lektoriert. Da bekommst Du den „Daumen rauf“ schon vor der Veröffentlichung. 😀

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    • Meistens ist es so, dass das Lektorat erst nach Veröffentlichung durchgeführt wird. Das merkt man an manchen Tagen. Heute war wieder so ein Tag. Der Beitrag ist jetzt besser als noch vor einer Stunde.

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  5. Mist, ich hatte ihn schon gelesen. Dann muss ich noch mal?
    Kleinlaut gebe ich zu, dass es bei mir auch so ist – oft sind die letzten Fehler diejenigen, von der meine Lektorin nach der Veröffentlichung gefunden werden. Aber das macht den Traffic ja nicht unmöglich. Zögert nur den Höhepunkt etwas hinaus, was bei Traffic nicht weiter schlimm ist…

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  6. Für die Marktforschungsabteilung der Damfblock Ennertähnmänt Gruhp: bei mir persönlich lag es am Video. Ich schaue keine Videos (es gibt gelegentlich Ausnahmen, aber nur sehr selten). Da ich es nicht gesehen habe, konnte ich auch keinen originellen oder nichtoriginellen Kommentar loswerden, und Videos die ich nicht angeschaut habe liken geht halt auch nicht.

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