Ungünstige Momente für Schwächeanfälle

Manchmal geht man ja vom Schlimmsten aus. Gelegentlich tritt das Schlimmste auch ein, was einem aber auch wieder eine gewisse Gelassenheit verleiht. Denn wenn man das Schlimmste vom Übrigen noch relativ deutlich abgrenzen kann, scheint es einem ansonsten nicht ganz so schlecht zu gehen. Uns geht es gut. Bei allen kleineren Wehwehchen, die den Alltag so heimsuchen, können wir uns nicht beschweren. Und wer die Muße findet, einen Artikel über das Schlimmste zu verfassen, hat es entweder nicht allzu schwer oder möchte bewusst seine Stimmung drücken. Fürs method-acting durchaus sinnvoll, aber ich bin kein Schauspieler, auch wenn ich mich eine Zeit lang mit dem Gedanken trug und immerhin ein Meister der Illusion bin. Wenn nicht sogar der Meister. Der Eine!

Definitiv aber ein Meister der Imagination. Vor allem nachts im Schlaf. Da sehe ich mich mit im Krankenhaus tätigen Pinguinen konfrontiert, träume davon, wie ich aufstehe und laufen gehe oder trage ein blaues Kleidchen, um Aliens zu bekämpfen. Neuerdings trete ich die Frau, die in unserer Wohnung lebt. Sie vermutet, dass ich im Halbschlaf laufe, weil meine Hände sich wohl auch bewegen und ich unruhig atme. Vielleicht geht es mir doch nicht so gut. Da muss ich mal nachforschen. Allein schon wegen der Sache mit dem Kleid.

Um vorzubauen: Nein, ich habe absolut nichts gegen irgendeine Art der Genderidentität. Wer gern im Kleid von Alice im Wunderland Aliens bekämpft, soll das gerne tun. Mich stört es nicht. Generell ist es nicht verwerflich, als Mann Kleider zu tragen. Macht der Papst ja auch.

Meine Vorstellungskraft lässt mich regelmäßig verkrampfen, wenn ich an Fußball denke. Eigentlich habe ich mit keinerlei Verletzungen ein großes Problem. Einige Knochenbrüche habe ich schon hinter mir, was zum einen an meiner stürmer- und drängerischern Phase in jungen Mädchenjahren im Alter von 2 bis etwa 12 Jahren, zum anderen an einem unerfreulichen Unfall lag. Unfälle sind wohl meistes unerfreulich. Wie dem auch sei: Ich bin in der Lage, darüber zu schwafeln, was das Schlimmste ist und habe wenig Angst vor Verletzungen. Den ersten Knochenbruch habe ich mir also im Alter von 2 Jahren selbst beigebracht. Seitdem weiß ich: Man springt nicht von Wickelkommoden und versucht zu fliegen. Die Geschichte begleitet mich nun seit 28 Jahren und erst jetzt registriere ich, wie absurd die Sache ist.
Was mich allerdings wirklich die Wände hochgehen lässt, sind Gedanken an Beinverletzungen. Insbesondere an Schien- und Wadenbein und den Kreuzbändern. Denn wenn da was fratze ist, dann so richtig. Deshalb scheue ich Zweikämpfe im Vollsprint; zumindest in der Realität. In Gedanken spiele ich verschiedene Zweikampfsituationen durch und wer mich dabei beobachtet, wird denken, dass ich gerade versuche, meine Füße zusammenzurollen. Sprich: Ich verkrampfe.

Vor ein paar Tagen komme ich morgens vom Laufen wieder nach Hause und wecke die Frau, die in unserer Wohnung lebt, weil wir noch eine kleine Runde zusammen locker laufen gehen wollen. Sie schält sich aus dem Bett und ich gehe in die Küche und koche Kaffee. Und während ich an den zurückliegenden Lauf denke und auf dem linken Bein stehend leichte Kniebeugen mache, überlege ich, was passieren würde, wenn mir jetzt was im Knie kaputt geht. Explodierender Meniskus oder so. Hört man ja immer mal wieder von. Stehenbleiben fällt ja schonmal flach. Also bleibt mir nur, möglichst theatralisch zu Boden zu gehen. Dummerweise steht man in unserer Küche beim Kaffeemachen derart eingepfercht, dass ich alles im Umkreis von einem Meter demolieren würde.

Mein erster Griff ginge wohl an unser tolles, selbstgebautes Regal auf dem unsere Mikrowelle steht. Nicht, weil das der naheliegendste Haltepunkt wäre, sondern weil wir eine neue Mikrowelle haben wollen. Eine rote. Unsere aktuelle ist gelb, aber war bestimmt mal weiß. Qualitätsplastik von Aldi aus den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts. Wohl wissend, dass die Wand, an der das Regal befestigt ist, lediglich eine tapezierte Rigipsplatte ist, würde ich also das Regal samt Dübeln aus der Wand reißen. Soweit ein guter Plan. Ich würde mich freuen, dass wir bald eine neue Mikrowelle bekommen würden. Aber weil ich nun den Aufprall vermeiden wollen würde, würde ich neuen Halt suchen und im Fallen nach unserem Küchentisch…

(Ich habe gerade die Frau, die unserer Wohnung lebt, danach gefragt, wie man einen Tisch der Art nennt, wie wir ihn in der Küche haben. Als Antwort kam „…(lange Pause)…Ein brauner Tisch?“. Ich habe sie jetzt ins Bett gebracht. Und während sie mir „Ein Klapptisch?“ hinterherruft, verlasse ich das Schlafzimmer und schließe hinter mir die Tür.)

…greifen. Auch dieser ist an der Rigipswand befestigt und verfügt über eine noch größere Hebelwirkung, weshalb ich auch diesen aus seiner Verankerung und samt Teilen der Wand mit mir zu Boden reißen würde. Jetzt hätte ich ein Problem. Griffe ich nach der Arbeitsplatte, hätte ich Bedenken, unnatürliche Armbewegungen durchzuführen. Sehr erstaunlich, dass ich diesen Gedanken weder beim Regal noch beim Küchentisch habe. Also würde ich mein Glück mit der Kaffeemaschine versuchen. Blöde Idee. Was wiegt so eine Padmaschine? Zu wenig, um mir als Halt zu dienen. Stattdessen risse ich mit dem Kabel der Maschine die Steckdose aus der Wand.
Was jetzt? Der Griff von der Backofenklappe! Glücklicherweise falle ich in meiner Vorstellung in genau diese Richtung. Nicht, dass das Teil noch aufgeht…keine Zeit zu überlegen. Ich müsste handeln und griffe nach der Klappe. Für den Bruchteil einer Sekunde bräche ich in lauten Jubel aus und sähe meinen Fall abgefangen, weil die Klappe nicht aufgeht. Sämtliche andere Bruchteile derselben Sekunde verbrächte ich damit, der Ofenklappe beim Aufgehen zuzusehen.

Die Frau, die in unserer Wohnung lebt, würde aus dem Schlafzimmer geschluft kommen, um zu fragen, seit wann wir zwischen Küche und Schlafzimmer eine so unförmige Durchreiche haben. Sie würde mich in der Küche liegend mit neongelben Laufsachen vorfinden. Mit dem Kopf auf der Ofentür liegend, zwei gebrochenen Handgelenken, weil ich noch immer den Griff der Ofentür festhielte. Auf meinem Rücken läge die Mikrowelle, die dummerweise nicht zu Bruch gegängen wäre. Das Regal und der Küchentisch wären zerstört und hätten bei der ruppigen Demontage unseren neuen, wunderschönen Küchenmülleimer verbeult. Zu allem Überfluss wäre der schon fertige Kaffee über meine Beine gelaufen.
Die Frau, die in unserer Wohnung lebt, würde sich umdrehen, langsam ins Wohnzimmer laufen, zurückkommen und mir mit folgenden Worten das Festnetztelefon hinwerfen:

„Ruf mal die Hausverwaltung an und denk dir was Plausibles aus. Ich mach das nicht.“

Glücklicherweise würde mir das als Meister der Imagination nicht allzu schwer fallen.

33 Kommentare

  1. Ein wenig konnte ich lachen, besonders wie du die Bruchteile beschreibst vom Anhalten der Backofentür – über das Freuen des nicht öffnens und dann doch öffnens …. Denke aber die Frau, die in euerer Wohnung lebt, würde wohl die Rettung rufen ? ich bewege im Schlaf oft die Füße auf und ab, ohne jemanden zu treten, dafür ist bei uns auch mein „Galan“ zuständig … dafür hab ich dann in der Früh oft „Muskelkaterbeine“ für ein paar Minuten …

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  2. Den Gender-Einwurf, so brav im Sinne der politischen Korrektheit – hätte ich hier nicht erwartet: hast Du das nötig? Ein Thema, dass mich zu sehr ärgert, als dass ich diesem Aufmerksamkeit schenken mag.
    Hab hier übrigens auch nen nächtlichen im-Bett-Jogger. Muss ich jetzt die Halterungen unserer Küchenmöbel kontrollieren? 😀
    …wieder einmal herzhaft gelacht:D

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    • Ich brauchte einen Aufhänger für die Sache mit dem Papst. Ich sehe die Angelegenheit mit der politischen Korrektheit ähnlich. Künstliche Empörung, weil man denkt jemand würde xy-feindlich reden und schreiben, betont nur wieder die Besonderheit einer Sache. Ohne großes Gemaule ist Gleichstellung deutlich einfacher. Frei nach dem Motto „Nicht reden. Machen!“

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    • Gute Idee! Ich hätte auch gern ein Cerankochfeld bzw. einen Induktionsherd. Die Frage ist, wie ich den aktuellen im Fallen beschädigt bekomme. Auf jeden Fall werde ich meine Kniebeugen beim Kaffeemachen von nun an intensivieren. Vielleicht klappt’s dann mit den neuen Geräten.

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      • Oh. Hm. Ok, lass uns doch mal brainstormen (ich weiß ja, wie sehr Du Anglizismen magst): wie wär’s mit einer Glasfflasche, z.B. Wasser, die so ungünstig fällt, dass sie die Scheibe des vorhandenen Ofens zerdeppert?
        Ist für Dich evtl. ungefährlicher…?

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      • Als Konsument reinsten Quellwassers aus Plastikfflaschen, müsste ich schon extrem viel Gewalt anwenden, um das was zu zerstören. Aber ich werde es versuchen. 🙂

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      • Hm. Schwierig.

        Dann bleibt nur noch, den Bohrhammer zur Prüfung der Stabilität des selbstgebauten Regals und ggf. Erneuerung der Verankerung in der (fast) Wand dummerweise mit Krawumms fallen zu lassen… gegen die Scheibe.

        Als Germanistiker nimmt Dir jeder die Ausrede ab, dass Du Dich mit Werkzeug nicht auskennst, und Dir das absolut plausibel erschien.

        Gut, einfacher wäre, Du wärst ein Mädchen. Oder Du würdest wenigstens das hellblaue Kleid tragen.
        Dann kämst Du gar nicht erst in Erklärungsnot.

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  3. Puh, ich bin also nicht die Einzige mit solchen Gedankengängen? Tatsächlich habe ich ähnliches auch schon durchdacht. Wobei durchdacht nach einem Plan klingt, was es nicht ist.
    Wo ich mich festhalten würde, täte ich umfallen. Oder wie ich reagierte, wenn jemand mit gezückter Pistole in die Bahn einstiege. (Ich wäre natürlich die Retterin und würde mich durch psychologische Tricks in den Kopf des Bewaffneten fräsen, von wo aus ich ihm naheläge, die Waffe lieber mir zu geben, mit der ich schließlich ihn zwänge, sich hinzusetzen und brav zu bleiben, bis die Einsatzkräfte kommen, denen ich dann erst einmal versichern müsste, dass nicht ich Täterin bin, auch wenn es mit auf eine Person gerichteter Waffe in meiner Hand wohl so aussähe, sondern dass ich die Retterin bin, die nun für einen Monat gefeiert würde und deren Blogzugriffszahlen durch die Decke schießen würden, da ich meine Anonymität aufgäbe, weil mir das zu anstrengend zu verschleiern und zu belastend zu verschweigen wäre, schließlich gehen mit einem solchen Vorfall viele Gedanken und Gefühle einher, die ich doch irgendwie mitteilen müsste. Sollte also jemals ein Bewaffneter in die Bahn kommen, werdet ihr wissen, wer ich bin, da ich -entgegen meiner heroischen Vorstellungen- wohl beim oben geschilderten Versuch von ihm getötet werden würde und ein Teil meiner Leser durch mein erzwungenes Schweigen darauf käme und ein anderer Teil durch die Trauerbekundungen befreundeter (Nicht-mehr-)Blogger.)

    Verschenkt doch eure Mikrowelle und kauft euch eine neue.

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  4. HAHA! Habe meine Meinung zu Mikrowellen zwar grade auf meinem Blog klar gemacht. Deswegen werde ich da nicht weiter darauf eingehen. Aber ich finde es erstaunlich schön was du für eine kreative Vorstellungsgabe hast. Ich muss zugeben, ich habe auch immer wieder solche gedankenflüsse, aber ich könnte sie dann nie so schön und klar niederschreiben. Respekt!

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  5. Du möchtest eine neue Mikrowelle? Geht ganz einfach. Habt Ihr einen Sandwichtoaster? Aufmachen, aus Versehen das Kabel der Mikrowelle rein, Toaster schließen, fertig. Mein Vater hat hier so noch jedes Gerät auf den Müll befördert… Mixer, Wasserkocher, einen anderen Toaster. Hernach konnte ich mir alles in gelb kaufen

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