Intolerant gegenüber Intoleranzen – Wenn Gesellschaft juckt

Bumskopf_Last

Relativ unvermittelt fragt sie mich:

„Was hat er denn gerade überhaupt gesagt?“

„Wer?!“

„Der Arzt.“

„Du warst doch dabei.“

„Ja, das weiß ich, aber was der sonst gesagt hat, ist weg. Ich weiß, dass er etwas gesagt hat, aber ich könnte dir nicht sagen, was es war.“

Wir kommen vom Arzt. Da muss man manchmal hingehen, was immer gewisse Risiken birgt. Denn wer sich dem Arzt präsentiert, muss damit rechnen, dass der Arzt etwas findet. Etwas, das unter Umständen von selbst verschwunden wäre und bloß, weil es beim Arzt Aufmerksamkeit bekommt, seine Daseinsberechtigung wittert und ausbricht. Ohne Diagnose gibt es keine Krankheit, weshalb ich oft genug kleinere Wehwehchen einfach aussitze. So habe ich bereits einen Innenbandanriss im Knie erfolgreich verdrängt und diverse Erkältungen nicht bemerkt. Unter Umständen habe ich schon diverse Sportverletzungen derart selbstbewusst übersehen, dass sich diese spontan selbst geheilt haben. Sollten Beschwerden anhalten, komme ich nicht umhin, einen Quacksalber aufzusuchen. Aktuell befinde ich mich in der Prä-Phase eines möglichen Arztbesuches. Das linke Knie macht Ärger und sollte sich die schon viel zu lange Sportpause nicht positiv auswirken, muss ich mich untersuchen lassen.

Obwohl ich nicht allzu gern zum Arzt gehe, bringen diese Besuche – sofern ich nur Begleitung bin – auch Vorteile mit sich.

„Oh, Herr Höttges! Setzen sie sich. Brauchen Sie etwas? Kaffee, Tee, Wasser?“

Man kennt mich. Es hat sich herumgesprochen, dass ich die Frau, die in unserer Wohnung lebt, zu ihren Arztbesuchen begleite (was heute sogar sehr sinnvoll ist) und unter Umständen darüber schreibe. Und nun hofft so manch Mediziner, dass ich auch ihn mit einem Besuch beehre. Schließlich konnte ich auch arztfernen Schichten mit „Gerösteter Nacken um 6:30 Uhr“ einen seltenen Einblick in die Welt eines Wartezimmers aus Sicht des Wartenden gewähren. Eine nicht zu unterschätzende Werbemaßnahme, zumal kostenlos. Nur weiß man nie, wie man am Ende als Arztpraxis wegkommt.

Denn abgesehen von den initialen Schmeicheleien, die mir entgegengesäuselt werden, ist die Sprechstundenhilfe alles andere als hilfreich, wenn sie mit Patienten zu tun hat. Mir gegenüber fährt sie jedoch mit ihrem Versuch fort, mich zu manipulieren.

„Möchten Sie eine Zeitschrift, Herr Höttges? Drüben ist ein Kiosk. Ich könnte schnell…“

„So schweige es! Mich lüstet nach Trauben. Eine solch vorbildliche Praxis verfügt sicherlich über derlei Geöbst?“

„Ich habe hier meinen…meinen Apfel für die…für die Mittagspause…“

„Ach?“

Ich ziehe die Augenbrauen hoch, mein Klemmbrett hervor und notiere etwas. Die Sprechstundenhilfe wird bleich und zieht sich hinter ihre Theke zurück. Derweil wird die Frau, die in unserer Wohnung lebt, ins Behandlungszimmer geführt. Eine halbe Stunde später kehrt sie zurück und sieht verschlafen aber glücklich aus.

„Und? Dämon ausgetrieben“

Sie streicht sich in Zeitlupe eine Strähne aus dem Gesicht und schmatzt. Ich deute es als „Ja, vielleicht. Keine Ahnung. Wo und wer bin ich?“ und belasse es dabei.

Beim Verlassen der Praxis wankt die Frau, die in unserer Wohnung lebt, aus dem Treppenhaus. Als wir zur Tür hinaus in die Fußgängerzone treten, sage ich laut, dass ich ihren Drogenkonsum am Vormittag nicht gutheißen kann. Kein Fußgänger reagiert. Dieses Kaff ist offensichtlich daran gewöhnt, dass so mancher Patient wie benebelt aus besagtem Treppenhaus schwebt. In ein kleines Fenster der ersten Etage zwängen sich mehrere Gesichter. Als ich ihren Blickkontakt erwidere, fangen sie an zu winken. Nicht die Gesichter selbst, sondern die dazugehörigen Hände, die wohl über Arme an einem unter dem Gesicht befindlichen Körper befestigt sind. Gesichter haben in der Regel selten eigene Hände und mit Gesichtern selbst winkt man einfach nicht.

Ich ziehe erneut demonstrativ mein Klemmbrett hervor. Weil meine Beobachter nicht sehen können, was ich notiere, male ich das Haus vom Nikolaus. Anschließend stecke ich das Brett wieder ein, blicke mit ernster Miene zum Fenster hoch und gebe den Gesichtern zu verstehen, dass ich mir mein Bild von dieser Praxis gemacht habe. Der Arzt tupft sich den Schweiß von der Stirn und verschwindet aus dem Fenster.

Und nun sitzen wir eben im Auto und fahren über Landstraßen zurück. Schon im Vorfeld des Arztbesuches hatte mich die Frau, die in unserer Wohnung lebt, darüber in Kenntnis gesetzt, dass sie sich unter Umständen an kaum etwas, was im Anschluss an die Untersuchung geschehen würde, werde erinnern können.

„Was hat der Arzt denn jetzt gesagt?“

„Wirst du dich nachher daran erinnern können, wenn ich es dir jetzt sage?“

„Wahrscheinlich nicht. Ich fühle mich leicht angeschickert.“

„Dann warten wir noch.“

„Ich will es aber jetzt wissen.“

„Du wirst leider nicht mehr wachsen.“

„Mann! Jetzt sag schon!“

„Keine Intoleranz gegen…“

Weiter komme ich nicht, weil die Frau, die in unserer Wohnung lebt, eine ausgeprägte Intoleranz gegen Intoleranzen hegt, seit sie bei jeder Kleinigkeit diagnositiziert werden und sich Menschen daraus ihre Identität stricken. Der moderne Mensch identifiziert sich über seine Krankheiten und seine Ernährung. Das beides vereint sich in Intoleranzen. Aus Verdacht und weil es heutzutage geht, hat die Frau, die in unserer Wohnung lebt, in den vergangenen Wochen versuchsweise laktosefreie Kaffeesahne probiert. Es war erstaunlich. Nichts passierte.

„So ein Quatsch! Hätte ich sowas, wäre mir das längst aufgefallen.“

Mich plagen leichte Gewissensbisse, weil ich vor Kurzem vergaß, die mit Laktase versetzte Kaffeesahne in ihren Kaffee zu gießen. Folglich erhielt sie normale Kaffeesahne, ohne dass ich es ihr verriet. Jetzt wäre der richtige Zeitpunkt, denn sie würde sich später ohnehin nicht mehr daran erinnen können.

„Ich habe mir gleich gedacht, dass du keine Intoleranz hast, als ich dir letztens versehentlich einen Kaffee mit normaler Kaffeesahne servierte.“

„Ja, egal. Hier ist ein lustiger Artikel. Ich lese vor.“

Und sie liest vor. Am Ende befinden wir beide den Beitrag für unterhaltsam. Die Frau, die in unserer Wohnung lebt, scheint aktuell durch die abklingende Sedierung euphorisiert zu sein, kichert und tippt irgendwas in ihr Handy. Sie scheint Probleme beim Treffen der richtigen Buchstaben zu haben, weshalb sie sich sichtlich zusammenreißen muss und mir anschließend das Ergebnis präsentiert.

„Da! Guck! Ich kommentier das.“

„‚Hahn‘?“

„Was?! Nein, da steht ‚Haha‘.“

„Da steht ‚Hahn‘.“

„Ja…das ist falsch.“

Die übrige Rückfahrt verläuft ereignisarm und abgesehen von einer weiteren Nachfrage, was der Arzt denn gesagt habe, ruhig, weil die Frau, die in unserer Wohnung lebt, schläfrig ist. Sie wird erst munter, als wir den Parkplatz eines Supermarkts befahren. Parkplätze von Supermärkten vereinen zwei Dinge, die wir beide manchmal nur schwer ertragen können: Autofahrer und Gedränge. Außerdem parken insbesondere auf diesem Parkplatz ausgesprochen viele Menschen, denen optimale Raumnutzung ein Fremdwort ist.

„Wie die hier teilweise parken. Dass die sich nicht schämen.“

Ich bin ein begabter Parker, der souverän jede noch so enge Parklücke schwungvoll mit seinem Vehikel füllt. Wenn man mir sagt, dass diese oder jene Parklücke zu klein sei, muss ich allein schon aus Prinzip eben jene nutzen. Außerdem habe ich einen Bildungsauftrag. Ich muss den Menschen, die hier so unverschämt egoistisch parken, zeigen, wie schlecht sie stehen. Sie werden mir dankbar sein und daraus lernen, weil ich sie subtil auf ihren Fehler hingewiesen habe. Also platziere ich unser Auto zwischen einem Mini (ein Modell, das kurioserweise schon lange nicht mehr mini ist) und einem goldenen Mercedes.

„Kann ich im Wagen bleiben?“

„Nicht, dass mir nachher fremde Menschen auflauern, um mich wüst zu beschimpfen, weil ich meine Freundin bei diesen Temperaturen im Auto gelassen habe.“

„Wie soll ich denn hier rauskommen?“

Daran habe ich nicht gedacht. Sämtliche Türen sind nicht als Ausstieg zu verwenden. Glücklicherweise besitzt unser Auto einen Knopf, der die Heckklappe öffnet. Wie man es bei Hunden auch macht, öffne ich das Fahrerfenster einen Spalt, damit die Frau, die in unserer Wohnung lebt, mit frischer Luft versorgt wird. Das hätte sie im Grunde auch selbst machen können, weil es bei Ford vor 18 Jahren offensichtlich noch keine elektrischen Fensterheber gab. Anschließend verlasse ich das Auto durch die Heckklappe, lasse mir von der Frau, die in unserer Wohnung lebt, mein Klemmbrett reichen und betrete Edeka. Als ich zurückkehre, finde ich am Heckscheibenwischer einen Zettel:

„Wenn Sie nochmal so parken, lasse ich Sie abschleppen. A****loch“

Ich entferne den Zettel und klemme ihn einem willkürlich ausgewählten anderen Auto an die Scheibe. Als ich mich auf den Fahrersitz setze, redet sie im Schlaf.

„Gut, dass du den Wagenschlüssel nicht hier gelassen hast. Da stand gerade eine Schnepfe hinterm Auto und hat sich am Telefon mit jemandem über ‚die Ölaugen‘ unterhalten. Ich hatte den Rückwärtsgang schon drin.“

Vielleicht schläft sie auch nicht.

„Du bist aus gutem Grund aktuell nicht fahrtüchtig.“

„Das wäre noch mein geringstes Problem gewesen.“

Bis wir zuhause ankommen, unterhalten wir uns über die irrationale Eigenart von Menschen, vor Unbekanntem Angst zu haben oder es grundlos einfach abzulehnen. Möglicherweise ist es ein uralter Instinkt, der uns vor allzu unüberlegten Handlungen schützen sollte, wenn wir auf etwas trafen, das wir nicht kannten. Andererseits befinden wir uns in einem Stadium der Entwicklung, das es uns ermöglicht, unser eigenes Verhalten zu reflektieren. Wiederum andererseits beweisen Park- und Wahlverhalten unserer Mitmenschen, dass die Fähigkeit des rationalen Denkens nicht unbedingt genutzt wird. Schwierig wird es, wenn bestimmten Stimmen im Land Glauben geschenkt wird, die von sich selbst behaupten, die Meinung der Mehrheit zu vertreten, was sie nicht tun. Sie vertreten die Meinung derjenigen, die blauäugig an die eine simple Lösung glauben. Die glauben, dass es uns wirklich schlecht gehe, während wir zur Friedenszeit beim Abendessen auf unseren Flachbildschirmen die neuesten Entwicklungen einer Sache verfolgen, zu denen lediglich ein verschwindend geringer Bruchteil der Bevölkerung überhaupt einen direkten Bezug hat.

Manchmal fragen wir uns, ob das ganze Leben nicht ein großes soziologisches Experiment ist. Ob man uns bestimmten Situationen bewusst aussetzt, um unsere Reaktionen zu untersuchen. Überschrift: Ist der Mensch im Kollektiv fähig, einmal begangene Fehler zu erkennen und anschließend zu vermeiden?

Manchmal verfalle ich hinsichtlich der Kommentierung solcher Dinge in Lethargie. Das hängt auch damit zusammen, dass ich mich manchmal schimpfend nicht ertragen kann. Ich kann mich hervorragend über bestimmte Dinge aufregen, aber muss mich manchmal auch bremsen, um nicht im Frust zu enden. Denn ab einem bestimmten Punkt drehe ich mich im Kreis und gehe mir letztlich selbst auf den Keks. Wohl dem, der eine unter dem Einfluss einer abklingenden Narkose stehende Freundin in seiner Nähe weiß. Sie ruft gerade aus dem Wohnzimmer.

„Weißt du? Das ist alles nicht so schlimm, wenn man sich den Bumskopf ansieht. Er trägt das Leid der Welt auf seinen Schultern. Er ist so tapfer!“

Der Bumskopf ist unser männliches Kaninchen. Es steht schlechter um sie, als ich dachte.

19 Kommentare

  1. Darf ich voll die Ernsthaftigkeit auffahren, auch wenn ich mich köstlich amüsiert habe?
    Ach iwo, ich tu’s einfach, denn dieser Satz birgt schon ein wenig arg eine Wahrheit, die nicht gefällt:
    „Der moderne Mensch identifiziert sich über seine Krankheiten und seine Ernährung.“

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  2. Ich verstehe gar nix. Außer den Absatz, der total albern rüberkommt, den verstehe ich. Seit wann wird man beim Arzt während einer Untersuchung sediert? Lachgas? Gib mal die Adresse.
    Ach, und das Kaninchen ist nicht süß!^^

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  3. Bumskopf…das Kaninchen? Ich werf mich weg…aber in einem Punkt hast Du definitiv recht! Irgendwie werden Krankheiten schlimmer wenn sie erst diagnostiziert werden. Manches muss man einfach aussitzen, sollte dabei aber auch selbstverantwortlich sein. Wenn es nicht mehr geht ist der Arzt dann doch sinnvoll.

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  4. […] Flingern. Und parkende Autos enthalten selten Insassen. Gelegentlich mal einen Hund oder schlafende Frauen, aber die können erfahrungsgemäß eher seltener etwas für den Tatbestand des dämlichen Parkens. […]

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  5. Kaninchen im Beitragsbild. Seeeehr clever 😉

    Überschrift: Ist der Mensch im Kollektiv fähig, einmal begangene Fehler zu erkennen und anschließend zu vermeiden?

    Vielleicht. Wir werden es merken. Ich tnediere in meinem grenzenlosem Hang zum Optimismus zu „Nein“. Denn Menschen in größeren Gruppen sind vor allem eins: Vollidioten.
    Schwarmintelligenz kennen alle. Schwarmdummheit wird nie erwähnt.

    Aber ich rege mich schon wieder auf. Sollte mal zum Arzt gehen.

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