Der Schritt im Schnitt und umgekehrt

2016-05-04 08.49.52

Es ist kurz vor 23 Uhr am Dienstag. Bayern München ist gerade eben aus der Champions League ausgeschieden, was bei mir Gleichgültigkeit auslöst. Nicht, weil ich etwas gegen die Bayern habe, sondern weil es mir relativ egal ist und hier ohnehin weitaus interessantere Dinge stattfinden. Direkt vor meiner Nase. Die Frau, die in unserer Wohnung lebt, joggt durch unsere Wohnung, während ich auf dem Sofa liege und unser Abendessen verdaue. Mein Abendessen. Soweit kommt es noch, dass ich unser beider Essen verdauen muss. Das kann die Frau, die in unserer Wohnung lebt, schon ganz allein. Frauen können heute schon sehr viel. Zum Beispiel ihr Essen verdauen. (Das mit diesem „Frauen können heute schon sehr viel“ könnte zum running gag werden. Zum rennenden Scherze.) Das beherrscht sie in Perfektion, was ich nicht deshalb weiß, weil ich sehe, was rauskommt. Vielmehr ist sie ein Mensch, den man im Fitnesssektor wohl als „Hardgainer“ bezeichnen würde. Die Frau nimmt einfach nicht zu, worum ich sie beneide. Ich nehme schnell zu, worum sie mich aktuell beneidetet. Denn sie möchte Sport machen und da kann es nicht schaden, wenn man über die eine oder andere Fettreserve verfügt.

Bislang ist sie immer ohne Sport ausgekommen. Das soll nun anders werden. Wahrscheinlich auch deshalb, weil ich sie in den vergangenen Jahren ex- und implizit dahingehend beeinflusst habe, indem ich laufen gegangen bin oder mich nachts, während sie schlief, neben sie gesetzt habe und ihr stundenlang „Du willst Sport machen“ ins Ohr geflüstert habe. Es hat funktioniert. Zu Weihnachten bekam sie von mir einen sogenannten Aktivitätstracker, das oder den Jawbone UP2. Den hat sie sich auch gewünscht. Hätte ich ihr den einfach so geschenkt, wäre das eventuell etwas unhöflich gewesen. Ich bin ja schon seit Längerem ein Selbstvermesser, weil ich es bemerkenswert finde, was man als Hobbysportler heutzutage für Möglichkeiten hat. Ich kenne meine Spitzengeschwindigkeit im Sprint und meinen Maximal- und Ruhepuls. Außerdem kann ich mittlerweile ganz gut ohne Technik am Körper abschätzen, welches Tempo ich gerade laufe. Um das zu wissen, musste man vor zehn Jahren noch teure Technik bemühen.

Zu dem Armband gehört eine App fürs Handy. Die haben wir schon im Herbst entdeckt und uns damit einige Schrittduelle geliefert. Das ist relativ witzlos, wenn der Eine alle zwei Tage laufen geht, der Andere aber nicht und der Eine während seiner Arbeit zweieinhalb bis sieben Stunden fast permanent in Bewegung ist, während der Andere von zuhause aus arbeitet. Weil ich immer gewann, hatte sie keine Lust mehr, gegen mich ein Duell zu starten. Stattdessen hat sie sich nun ein Tagesziel gesetzt und versucht dieses auch zu erreichen. Weil uns heute die Zeit für den mittlerweile obligatorischen Spaziergang fehlte, hat sie bis jetzt noch nicht ihr Schrittziel erreicht. Mein Vorschlag, jetzt noch eben spazieren zu gehen, wurde mit der relativen Mehrheit von 1:1 Stimmen abgeschmettert. Weil ich männlich bin und damit für einen Großteil der Ungerechtigkeiten auf dieser Welt mitverantwortlich, zählt meine Stimme weniger und wir bleiben zuhause.

Um dennoch ihr Schrittziel zu erreichen, muss sie noch knapp 1200 mal einen Fuß vor den anderen setzen. Weil der Aktivitätstracker durchaus in der Lage ist, zwischen Schütteln und tatsächlichen Gehbewegungen zu unterscheiden, muss sich die Frau, die in unserer Wohnung, auch wirklich fortbewegen.

Und das tut sie nun. Sehr zum Leidwesen der Katze, die seit mittlerweile einer Viertelstunde im Wechsel vor der Frau, die in unserer Wohnung lebt, wegrennt oder hinter ihr her. Es ist Zeit für ihr „Lecker“. „Lecker“ ist ihr Futter und sie reagiert auf dieses Wort. Ebenso, wie sie auf alle Ausdrücke reagiert, die sich ansatzweise auf „Lecker“ reimen oder eine ähnliche Intonation aufweisen. Spaßeshalber setzen wir uns manchmal ins Wohnzimmer und nennen der Katze alle möglichen Ausdrücke, die uns einfallen.

„Willst du Lecker?“

„Miau!“

„Willst du Cracker?“

„Miau!“

„Kennst du Schlecker?“

„Miau!“

„Fährst du Trecker?“

„Miau!“

„Pflügst du Äcker?“

„Miau!“

Das kann man ewig weiterspielen. Am Ende triumphiert generell die Katze. Denn anders als ein Mensch, der sich irgendwann der Sinnlosigkeit seines Handelns bewusst wird (was bewiesenermaßen nicht auf jeden Menschen zutrifft), merkt sich die Katze nur eines:

„Ich habe ‚miau‘ gemacht und dann habe ich was zu fressen bekommen.“

Katzen sind dumme Tiere, aber in der Hinsicht ist sie uns in ihrer Dummheit überlegen.

Weil also in etwa die Stunde schlägt, in der die Katze für gewöhnlich ihr „Lecker“ bekommt, läuft sie zusammen mit der Frau, die in unserer Wohnung lebt, aufgeregt durch die Wohnung. Ich erfreue mich also an dem Bild, das sich mir bietet. Ein junge Frau durchquert, angeführt von einer Katze, das Wohnzimmer, verschwindet im Flur und kehrt fünf Sekunden später wieder. Gefolgt von einer Katze, die sich beklagt, weil es wider Erwarten kein Fressen gab. An der Balkontür angekommen, dreht sich die Frau, die in unserer Wohnung lebt, um und geht in Richtung Flur. Die Katze interpretiert das als untrügliches Zeichen dafür, dass sie nun endlich etwas zu fressen bekommt, macht ebenfalls kehrt und rennt schon mal in die Küche. Sie kennt den Weg. Sie kennt ihn gut. So gut, dass sie wohl gelegentlich blind hinter einem her rennt, wenn man in die Küche geht. Dann rennt einem die Blöde nämlich von hinten gegen die Waden.

Während die Frau, die in unserer Wohnung lebt, ihre Kreise zieht und zwischen Gehen und leichtem Joggen variiert, wird im Fernsehen irgendein Test angekündigt. Von irgendeiner Moderatorin, die unglaublich aufgesetzt daherschwafelt. Anschließend erscheinen bekannte Gesichter und ich bin geneigt wegzuschalten, denn den Test – es geht um Lebensmittel – werden ein Koch und seine Assistentin durchführen. Er ist ok. Sie ist laut. War schonmal Thema in den sieben Gründen, sich schnellstmöglich von mir zu trennen. In Grund fünf.

Aus der Küche ertönt ein Jubeln. Offensichtlich hat die Frau, die in unserer Wohnung lebt, gerade ihr Schrittziel erreicht. Zum zehnten mal in Folge. Ich habe mein Tages- bzw. Beitragsziel erreicht, was erstaunlich ist, denn seit etwa 200 Wörtern raubt mir der Fellwürfel, der nun neben mir sitzt und lautstark alle zwei Sekunden seinen Lohn einfordert, den letzten Nerv. Ich kündige der Frau, die in unserer Wohnung lebt, an, dass ich dem fetten Katzenschinken nun sein unverdientes „Lecker“ gebe. Damit hätte auch die Katze ihr Ziel erreicht.


Ein denkbarer nächster Schritt für euch: Lasst euch meinen sozialen Außenposten auf Facebook gefallen.

9 Kommentare

  1. Schräges Beitragsbild … sind Tipps erwünscht …? ich schreibe mal von der Leber weg, wörtlich nicht bildlich … Mir hat beim zunehmen Muskelaufbau geholfen, klingt doof, hab ich von meinem Arzt gehört, ich solle wegen leichtem Untergewicht Muskeln aufbauen um das zu kompensieren, bin nun auf Normalgewicht und seitdem ist mir weniger kalt – schwindlig etc … obwohl ich schon vorher sportlich war …

    Arme Katze …

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  2. „Weil ich männlich bin und damit für einen Großteil der Ungerechtigkeiten auf dieser Welt mitverantwortlich, zählt meine Stimme weniger und wir bleiben zuhause.“ habe ich gelacht, ihr Männer seit doch arme Wesen!

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  3. Schön, dass die Leerphase überwunden ist 🙂 Katzen sind doch ein ewiger, verlässlicher Inspirationsquell. Frauen natürlich auch, aber weil ich selbst eine bin, bin ich da vielleicht voreingenommen.

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