Die Straßenbahn ist undicht

2016-06-25 13.41.01

Ich weiß nicht, wie ich hierhin gelangt bin. Mein Kopf fühlt sich an, als wäre er in Watte eingepackt. Entgegen meiner langjährigen Behauptung, dass ich nie bis selten krank werde, habe ich mir eine Erkältung eingefangen. Die Hörer des DampfPods werden es zu ihrer Belustigung festgestellt haben. Meine Stimme ist neuerdings tief und sonor. Seitdem zeigt auch die Frau, die in unserer Wohnung lebt, verstärktes Interesse an mir. Ein vorübergehendes, sofern ich wieder gesunde und die mir eigene Schaumstoffstimme wieder zurückgekehrt ist. Hoffentlich bleibe ich noch eine Weile krank. Wobei auch das keine Option ist, denn es ist wichtig, gesund zu werden, ob der Ereignisse, die da kommen mögen. Darüber werde ich hier im Blog nicht berichten. Aber lasst euch gesagt sein, dass es Ereignisse gibt, die da kömmen mögen.

Ich sitze auf jeden Fall in einer Straßenbahn in Düsseldorf. Düsseldorf hat unzählige Straßenbahnen und hat vor Kurzem erst noch einige Linien dazuerfunden, weil das Streckennetz ausgebaut wurde. Mir wurde berichtet, dass die neuen U-Bahnhöfe wohl recht ansehnlich seien. Heute werde ich mich davon nicht überzeugen können, weil ich in einer Straßenbahn sitze, die zwar die für U-Bahnen typische Bezeichnung „U71“ trägt, aber mich ausschließlich oberirdisch zum Ziel transportiert. Irgendwie muss ich wohl unsere Wohnung verlassen, die 400 oder weniger Meter zur Bahnhaltestelle gegangen und dort in eben diese U71 eingestiegen sein. Etwa so muss das Leben eines Meerschweinchens ablaufen.

„Wo bin ich?! Ah, zuhause. Wo bin ich?! Ah, zuhause. Wo bin ich?! Ah, zuhause. Wer bin ich?! … Was war nochmal die Frage?“

In der Bahn suche ich einen Sitzplatz, bei dem ich nicht Gefahr laufe, meine Mitmenschen anzustecken. Schwierig, weil erstaunlich viel Volk unterwegs ist. Die Viererplätze sind besetzt, ebenso die Zweiersitze. Also bleibt mir nichts anderes übrig, als mich auf einen Dreierplatz zu setzen. Weder mit noch entgegen der Fahrtrichtung. Vertikal zur Fahrtrichtung. Ich fahre nach links und bin auf dem Dreierplatz nicht allein. Ich habe mich auf den Platz ganz rechts gesetzt, ganz links sitzt ein älterer Herr mit Regenschirm. Mir gegenüber sitzt eine Frau mit recht dünnem Haar, was sie durch ihre Figur allerdings wieder ausgleicht. Ein paar Meter weiter vorne sitzen junge Männer und trinken Bier. Wer vormittags in einer Bahn sitzt und Bier trinkt, hat es geschafft. Es geht mich aber nichts an, also konzentriere ich mich wieder auf das Pfeifen in meinen Ohren.

Noch vier Haltestellen.

Draußen schifft es in einer Tour. Das Wetter passt zur Stimmung. Vielleicht verursacht das Wetter auch erst die Stimmung. Ich schaue mich um, weil ich gerade nichts anderes vorhabe. Weiter hinten in der Bahn sitzt ein Typ mit changierender Sonnenbrille. Heute hat sie Sonne noch nicht geschienen, als ist er mir sofort unsympathisch. Überhaupt ziehen sich viele vorwiegend junge Menschen heute äußert unpassend an. Merkt der Typ da hinten nicht, dass er bei strömendem Regen mit seiner Sonnenbrille völlig behämmert aussieht? Er muss doch damit rechnen, dass die Leute das etwas befremdlich finden. Vielleicht werde ich langsam alt.

Noch drei Haltestellen.

Der Mann links neben mir schreckt plötzlich auf und rutscht auf den freien Platz zwischen uns. Ich reagiere nicht, weil er wohl seinen Grund gehabt haben wird. Ich schaue nach links oben, wo eine Anzeige die nächste Haltestelle ankündigt. Der Mann deutet das als Zeichen, mich anzusprechen, deutet zur Decke links oben und sagt:

„Das tropft! Die ist undicht.“

Links neben dem Mann tropft es ununterbrochen knapp am Sitzplatz vorbei. Ich wende meinen Blick auf den Boden rechts von mir, wo ich eine große Pfütze erkenne. Auch hier tropft es von der Decke.

„Ja, hier auch. Da müssen wir wohl zusammenrücken.“

„Gern. Ich bin übrigens der Jochen. Kannst aber Jochi zu mir sagen.“

„Angenehm, ich bin der Manuel. Kannst aber gern Herr Höttges zu mir sagen.“

„Höffner?“

„Höttges!“

Tatsächlich lief der Dialog etwas anders ab.

„Das tropft! Die ist undicht.“

„Oh.“

Noch zwei Haltestellen

Ich starre weiter trägen Auges ins Leere und bemerke dann erst, dass es auf meiner Seite tatsächlich ebenfalls tropft. Ich schaue hoch und sehe unzählige Tropfen an der Decke der Bahn. Das Gelenk der Bahn scheint undicht zu sein. Ich überlege die ganze Zeit, ob ich Jochen, von dem ich gar nicht wissen kann, ob er tatsächlich so heißt, darüber informieren soll. Allerdings liegt mir Smalltalk ganz und gar nicht, weshalb ich weiter stumm bleibe. Geht Jochen gar nichts an, ob es auf meiner Seite auch tropft. Wenn die Bahn bremst, tropft es auf meinen rechten Jackenärmel.

Noch eine Haltestelle.

Draußen laufen Menschen durch den Regen. Mädchen mit zerrissenen Strumpfhosen und Jogginghosen (unzerrissen), die zu meinem – und glücklicherweise auch zu dem anderer – Befremden wieder für alltagstauglich erachtet werden. Gestern führte ich eine Gruppe 6-jähriger Mädchen durch den Zoo, in dem ich arbeite. Ein Mädchen erkannte irgendwann, dass es sich bei drei älteren Mädchen, die uns zufällig im Park begegneten, um Leidesgenossen der selben Grundschule handelt. Viertklässlerinnen. Bauchfrei, in Hotpants und geschminkt (das Gesicht). Ich komme da nicht mehr mit.

Ankunft am Zielort.

Bilk S-Bahnhof. Vorhof zur Hölle. Vorhof zu den Bilker Arcaden. Es könnte der Vorhof zu einem x-beliebigen Einaufszentrum sein. Dass es sich dabei in jedem Fall um den Vorhof zur Hölle handelt, bliebe Fakt. Dabei sind es nicht einmal die Menschenmassen, die mich stören. Wirklich viel ist hier gerade nicht los. Aber die Erfahrung zeigt, dass es nicht unbedingt einer größeren Menge Menschen bedarf, um permanent angerempelt zu werden. Ich rette mich zu H&M, wo ich ein grünes T-Shirt erstehen muss. Ja, muss. Während ich noch auswähle, läuft eine Frau an mir vorbei und beginnt zu reden. Mit einer anderen Frau, die ihr entgegenkommt. Sie gehen einfach weiter, während sie sich unterhalten, was bedeutet, dass sie sich irgendwann nicht mehr verstehen können. Sie drehen sich nicht einmal zueinander um. In diesem Moment zweifele ich ernsthaft daran, ob ich das heimische Bett heute überhaupt verlassen habe und ich nicht in Wirklichkeit noch zuhause bin und träume. Das Ganze mutet absolut surreal an.

Nachdem ich mir ein T-Shirt gekauft habe, dessen Farbton ich grob dem Grünen zuordne, hole ich ein Paket bei der Post ab. Der DHL-Mann hinterließ gestern einen Zettel, dass ich heute mein Paket abholen könne. Zwischen 8.30 Uhr und 14 Uhr sei die Filiale geöffnet, ab 12 Uhr wäre das Paket abholbereit. Es ist kurz vor elf. Ich versuche es trotzdem.

„Guten Tag. Ich möchte gern mein Paket abholen.“

„Da kann ich ihnen nicht helfen. Erst ab 12 Uhr kann ich Ihnen das Paket aushändigen. Aber probieren Sie es doch dort am Schalter weiter links. Vielleicht haben Sie dort mehr Glück.“

Ich ziehe weiter und lege meinen Zettel vor. Die Frau verschwindet und kehrt nach gefühlten zehn Minuten zurück. Das Paket ist nicht da und wird heute auch nicht mehr reinkommen. Ein beruhigendes Gefühl, dass Pakete über das Wochenende einfach im Zustellfahrzeug bleiben.

Als ich zurück zur Bahnhaltestelle gehe, fällt mir auf, dass man bei vielen Frauen unweigerlich auf den Hintern schaut. Das habe ich früher nie gemacht und ich habe auch nicht unbedingt den Drang, das zu tun. Neben dem Trend, zerrissene Hosen anzuziehen und vom Rumpf im Grunde nur das Nötigste zu bedecken, scheint es angesagt zu sein, Hosen zu tragen, die den Hintern dermaßen betonen, dass er einem optisch geradezu ins Gesicht springt. Wenn er nicht ohnehin schon zur Hälfte aus der viel zu kurzen Hose hervorschaut. Als ich aus der Bahn aussteige, lese ich noch einen Beitrag über Abiballkleider. Die Autorin hatte drei. Warum braucht man drei Abiballkleider? Ich hatte nur eins.

Ich bin ein Relikt vergangener Zeiten.


Besucht mich auf Facebook und wünscht mir dort gute Besserung.

9 Kommentare

  1. Gute Besserung! Wenn ich das lese freue ich mich mal wieder, dass ich mit dem Auto zur Arbeit fahren „muss“ 🙂 Es tropft nur selten und man kann die Fenster öffnen wenn es zu warm ist……

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  2. Oh, ein Mann vieler Worte beim Smalltalk! Kann ich auch. „Ja“ in allen möglichen Tonlagen (für „ist so“, „findest du“, „find ich auch“). Bitte sag aber, dass Du nicht auch nen Tinnitus hast. Sonst ist das echt ne Blogger-Krankheit. Gute Besserung in jedem Fall!

    Ein grünes Shirt also … spekulieren wir mal: Junggesellen-Abschied? Jagdverein? Muppet-Mottoparty? (Hierauf erwarte ich freilich keine Antwort.)

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