Die geheime, stinkende Stadt

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Die Welt war für mich in Ordnung. Insbesondere nachdem ich nach Düsseldorf zog und ich registrierte, dass diese Stadt neben mancher Unzulänglichkeit doch einige Vorzüge zu bieten hat. Außer zu Stoßzeiten, die jeden Tag aufs neue die Fehlselbsteinschätzung Düsseldorfs als eine Metropole belegen, fließt der Verkehr; inbesondere der öffentliche Personennah-. Das gab und gibt es in Duisburg beispielsweise nicht. Denn selbst in dem Teil, der für mich immer Duisburg war und im Prinzip nur ein Drittel der gesamten Stadt ausmachte, fuhren und fahren lediglich drei Bahnlinien, die sich alle am Hauptbahnhof treffen. Dass es die Stadtplanung von Duisburg schaffte, dass diese drei Bahnlinien immerhin nicht dasselbe Gleis verwenden und es sogar eine Gegenrichtung gibt, ist ein Wunder.

Mittlerweile werden die Züge übrigens knapp. Die städtische Verkehrsgesellschaft kommt mit der Wartung nicht hinterher, weshalb immer mehr Züge ausfallen. Damit lebt der Duisburger. Er kennt es nicht anders. Diese Stadt ist marode, stellenweise „unschön“. Aber sie hat Charakter. Und ich wurde dort geboren. Das wirkt sich nicht unerheblich auf das Ansehen der gesamten Stadt aus. Der gesamten Stadt südlich der Ruhr und östlich des Rheins. Westlich des Rheins war ich selten, weil man diesen Teil ohne eigenes Auto nur schwer erreicht. Den Teil nördlich der Ruhr wollte ich nie erreichen.

Aber um Duisburg geht es hier nicht.

Auch nicht um Düsseldorf, das tatsächlich an einer Stelle stinkt. Und zwar so, dass ich lange Zeit, wenn wir dort vorbeifuhren, krampfhaft unschuldig nach vorn starrte, um nicht des Flatulierens in geschlossenen Räumen verdächtigt zu werden. Das Dilemma: Es muss ja dann die Frau, die in unserer Wohnung lebt, gewesen sein. Wer sonst? Das allerdings ist schlicht unmöglich, weil Frauen erst ab einem bestimmten Alter in der Lage sind, Winde zu produzieren, die nicht geruchsneutral sind. Dieses Alter hat sie noch nicht erreicht. Was aber riecht dort so? Mein zweiter Verdacht – nach dem Verdächtigen einer anderen Person – ist oft, dass ich vor dem Einsteigen auf ein totes Tier trat, das nun unter meiner Sohle sein betörendes Aroma entfaltet. Bislang bestätigte sich der Verdacht nie.

Das Geheimnis: Altpapier. Wohl dem, der mit offenen Augen durch die Stadt irrt. Denn ihm offenbart sich ein Werk, das altes Papier sammelt, lagert und später verarbeitet. Feuchtes Zeitungspapier – zumal tonnenweise – entfaltet einen Duft, der dem von gährendem Kohl im Naturdarm in nichts nachsteht. Geheimnis gelüftet.

Aber wie schon geschrieben: Um Düsseldorf geht es hier nicht.

Die Welt war also in Ordnung für mich. Städte waren ans Straßennetz angeschlossen und für jedermann erreichbar. Bis zu diesem Abend im Spätsommer 2011, der meine Weltordnung neu definierte.

Holen wir etwas aus:

Es gibt Städte und Dörfer, die sich bis heute einen Brauch bewahrt haben, dem ich nur sehr wenig abgewinnen kann. Dem kurioserweise auch sämtliche meiner Freunde und Bekannten nichts abgewinnen können, der aber trotzdem überlebt und mancherorts auch jugendlichen Zuwachs verzeichnet.

Traditionen sind grundsätzlich nichts Schlechtes, wobei Traditionen stets von der Perspektive abhängig sind. Ich bin in diesem Thema nicht bewandert, aber fragte mich vor Kurzem, was wäre, würde man in der aktuellen Debatte das Wort „Burka“ durch „Schirmmütze“ ersetzen. „Basecap“ nennt man sie auch. Es gibt Menschen – und dazu zählte ich zur Schulzeit und nach dem Abitur – die gehen nur ungern ohne Kopfbedeckung aus dem Haus. Meine Lehrer baten mich darum, meine Mütze abzusetzen und ich tat es widerwillig, weil ich es als Teil meiner Identität verstand. Maßlos übertrieben, aber ich zog sie jeden Morgen an und erst abends wieder aus.

Kleiner unrecherchierter Denkanstoß. Darüber kann man mal nachdenken.

Nun handelt es sich bei der Tradition, um die es hier geht, um das Schützenwesen. Kein Wesen, vielmehr ein Treiben, dessen Sinn sich mir nicht erschließt. Es soll wohl um das Erinnern der zweifelsohne wichtigen Aufgabe früherer Schützen gehen. So verstand ich es. Wieso es dazu notwendig ist, mehrere Tage ununterbrochen betrunken zu sein, ist mir allerdings ein Rätsel. Ganz davon abgesehen, dass die Zeiten, an denen ich an mehreren Tagen hintereinander ohne schwerwiegende Folgen einen über den Durst trinken konnte, für mich definitiv vorbei sind, vermag ich nicht die Transferleistung zwischen Alkoholismus und Schützenwesen zu erbringen. Erwachsene Menschen nehmen sich Urlaub, um von Freitag bis Mittwoch verkleidet, mit hochrotem Kopf und beißender Fahne Soldat zu spielen. Jeder wie er mag.

In diesem Jahr drängte sich mir eine Frage auf, die ich – weil ich zufällig vor Ort war – einem kundigen Menschen stellte.

„Gibt es eigentlich auch Schützinnen?“

„…Schützinnen?!“

„Also nein?“

„Hahaha! Nee!“

Eine reine Männerveranstaltung, auf der Frauen allenfalls Beiwerk sind. Da ich beruflich auf jenem Schützenfest war, durfte ich das erleben. Das Schützenkönigspaar wurde interviewt. Er sprach, sie existierte neben ihm und erfüllte die Aufgabe, ein Ballkleid zu tragen. Mehr nicht. Jede wie sie mag.

Ich kann der Schützentradition nichts abgewinnen. In besagter Stadt, die durch ihre Werke im Hafen einen gelegentlich recht ekelerregenden Gestank absondert, sieht man das anders. Da werden Jungschützen vorgestellt, die lupenreine Sonderlinge sind. Anfangzwanziger mit Bierbauch, die betrunken den Stolz auf ihre Kompanie – wenn man das denn so nennt – äußern. Oder dieser 13-Jährige, den man auf die Bühne holte und ihn als den Stolz seiner Eltern vorstellte. Der auf die Frage, was er denn am liebsten tue, mit „Marschmusik hören und machen“ antwortete.

Doch was mich Jahr für Jahr auf die Palme bringt, ist etwas anderes. Die Frau, die in unserer Wohnung lebt, geht an einem Abend auf die Kirmes des Schützenfestes. Auch das hat Tradition, aber eben nichts mit dem Schützenfest zu tun. Ich hole sie später ab, weil ich kein Kirmesgänger bin. Das ist in Ordnung. Ich kannte Neuss vor fünf Jahren noch nicht so genau, aber dank Navigationsgeräten gelangt man von A nach B.

Theoretisch.

Denn diese Stadt, Neuss, befindet sich zur Zeit des Neusser Schützenfestes  (des Noisser Bürrrrrger Schitzenfässtäs!) im absoluten Ausnahmezustand. Wer hier nicht lebt, ach!, auch wer hier lebt, kann die Stadt weder vernünftig mit dem eigenen Vehikel oder öffentlichen Verkehrsmitteln betreten noch verlassen. Es ist unmöglich, jemanden mit dem Auto am Kirmesplatz abzuholen, weil der gesamte Innenstadtbereich + alles in einem Umkreis von 2 Kilometer abgeriegelt ist. Er ist abgeriegelt! Als ich 2011 das erste mal mit dem Auto nach Neuss kam, um die Frau, die in unserer Wohnung lebt, von der Kirmes abzuholen, hätte jeder, der neben mir im Auto gesessen hätte, einen Trommelfellschaden davongetragen. Ich bin ein ruhiger Mensch, aber dieses Schützenfest mit seinen geänderten Straßenführungen, gesperrten Durchfahrten, diesem hermetisch abgeriegelten Stadtkern führt bei mir zu nie dagewesenen Eskalationsschüben, die vor fünf Jahren nur noch durch den Umstand gefördert wurden, dass mein Handy mangels Strom den Dienst einstellte.

Gestrandet in einer stinkenden Stadt ohne die Möglichkeit, sich lotsen zu lassen. Die verbotene Stadt in Peking ist ein Witz dagegen, was die Erreichbarkeit angeht. Den Tränen der Wut nahe missachtete ich Straßensperrungen und fuhr den Taxis, die wohl Sonderrechte besitzen, hinterher. Das ist seitdem meine Strategie. Das Missachten der an diesen Tagen geänderten Straßenverkehrsordnung. Man könnte meinen, dass dies das Abholen in den Folgejahren vereinfachte. Das tat es nicht. Neuss weiß nämlich, seine Bürger bei schlechter Laune zu halten, und sperrt einfach jedes Jahr andere Straßen.

Zum Vergleich: Neuss wird zum Schützenfest von rund einer Million Besucher aufgesucht, während rund 7.000 Schützen ein wenig Monarchie spielen. Die gesamte Stadt ist betroffen. Die Düsseldorfer Rheinkirmes lockte dieses Jahr 3,5 Millionen Mensch auf die Rheinwiesen. Nirgends sonst bekam man davon etwas mit. Es betraf die übrige Stadt einfach nicht.

Für eine Veranstaltung, das sogenannte Anböllern, das eine derart heftige Druckwelle erzeugt, dass ich – hätte ich es nicht besser gewusst – sie einer terroristischen Aktivität zugeordnet hätte, war ich mit dem reibungslosen Aufbau der Technik betraut. Morgens betrat ich das Festzelt. Es roch nach kaltem Zigarettenrauch und Bier. Am anderen Ende des Zeltes stand ein schmächtiger Mann. Vielleicht mein Alter, vielleicht jünger aber älter aussehend. Schwer zu sagen. Etwas kaputtgerockt sah er aus. Nach dem Feiern sei er für die Bewachung des Zeltes zuständig, damit nachts keiner reinkommt. Außerdem reinige er, nachdem der letzte feierwütige Gast gegangen ist oder zumindest aus dem Zelt gefallen, die Toiletten. Ich hakte nach.

„Also du bewachst das Zelt?“

„Ja. Und halt die Toiletten so, ne, wenn die Letzten weg sind.“

„Und dann Nachtwache und morgens nach Hause?“

„Nee! Dann wird ja gefeiert.“

„Aber dann früh nach Hause wegen der späteren Nachtwache?“ 

„Heute haben wir so bis 4 Uhr morgens gefeiert.“

„Und dann Nachtwache…?“

„…und die Toiletten.“

„Und wann schläfst du?!“

 „Mittwoch.“

Was bleibt ihm auch anderes übrig? Einmal dort, kommt man nie wieder weg.


Der oder das Dampfbloque auf Facebook…jeder, wie er mag.

5 Kommentare

  1. Ich habe mal über den vergleich „Burka – Bascap/ Schirmmütze“ nachgedacht und finde, er hinkt. Vergleichbarer wären meiner Meinung nach „Burka – Skimütze, die selbst die Augen nur vergittert frei lässt (+ der Vollständigkeit halber ein undurchsichtiger Regenmantel). Beide vermummen einen Menschen ausreichend, um ihn mir suspekt werden zu lassen. Ich erkenne das Gesicht meines Gegenübers gern visuell. Überhaupt kann man bei einer Burka nicht mal eindeutig sagen, ob, wie man sicherlich erstmal vermuten würde, eine Frau drunter steckt.

    Möglicherweise ist das nur mein privates Problem, aber für mich sähe es so aus, als hätte jemand, der sich verbirgt, auch etwas zu verbergen. Das passt nicht zu meiner Vorstellung von einer offenen und freundlichen Umgangsweise miteinander. Doch da ich keine Burka- oder Skimützenträger persönlich kenne, sind das alles nur Vermutungen.

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  2. mein alter Schuldirektor trug immer eine Baskenmütze ,das war zu Zeiten als man noch den Hut lüftete zur Begrüßung … er erklärte seine Mütze ganz einfach : ich kenne so viele Menschen dass ich nur noch mit dem Hut in der Hand durch die Strassen gehen kann , die Mütze stecke ich einfach in die Tasche ; eine Erklärung die sich mir leichter erschloss als der Sinn der Saufgelage in Uniform aus Tradition .

    schönen Sonntag wünscht eine nicht traditionsgebundene wolfskatze …. 🙂

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  3. Schützenfeste. Oh Gott, wie oft bin ich früher auf Schützenfesten abgekackt. Anders war der Marschmusiklärm beim Dorfumzug nicht zu ertragen. Hier, in meinem Refugium, gibt es keine Schützenfeste. Und auch keine 3,5 Millionen Besucher. Aber abgesperrte Dorfzentren. Denn hier gibt’s Weinfeste. Jede Woche. Da tragen die Frauen kein Ballkleid, da stemmen die Pokale mit gefühlten 100 Litern Rebensaft. Besoffen sind trotzdem alle. Nur halt vom Wein statt vom Schnaps. Aber einen Vorteil hat es: Ich bin einfach durch die Absperrung gefahren. Quasi übers Fest. Es lebe das Rad 😀

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