Der Teilzeit-Pedant – Zwänge des Alltags

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Wir alle sind verhaltensauffällig. Der eine mehr, der andere weniger. Aber grundsätzlich haben wir alle unsere Neurosen. Ich beispielsweise springe gelegentlich beim Fernsehen auf, weil mir in der Musik eines Films oder einer Werbung ein Ton auffiel, den ich unbedingt identifizieren muss. Das mutet kranker an, als es ist, denn ich möchte lediglich wissen, ob ich mit meinem Verdacht, der Ton könnte ein „g“ sein, richtig liege. Oder ein „a“. Das sind die beiden häufigsten Verdachte. Also gehe ich zur Wand, an der eine meiner Gitarren hängt und mache die Probe. Meistens liege ich daneben, was mir offenbart, dass ich wohl kein absolutes Gehör besitze.

Andere Menschen müssen sich noch einmal versichern, dass sie die Tür abschlossen. Wiederum andere stehen immer mit demselben Fuß auf und nochmal andere werden unruhig, wenn deren Schwiegermutter vor der Tür steht. Das ist allerdings sehr weit verbreitet.

Als Kind und auch noch als Jugendlicher achtete ich darauf, dass meine Schuhspitzen bei jedem Schritt bündig an einer Fuge zwischen zwei Gehwegplatten oder Pflastersteinen ansetzten. Es ist eine unglaublich unbefriedigende Angewohnheit, denn die Schrittweite ist mit dem Abstand von Gehwegplatten oder etwa dem Untergrund von U-Bahnhöfen nicht im Ansatz kompatibel. Das dürfte Absicht der Regierung sein, um uns zu kontrollieren, um uns ein Gefühl der Unsicherheit zu geben, um uns zu zermürben. Gehwegplatten sind Folterinstrumente. In manchen Verhörräumen der Geheimdienste ließ man die Verdächtigen stundenlang mit dem Befehl im Kreis laufen, mit den Fußspitzen eine Fliesenfuge zu treffen. Der Boden war allerdings mit dreieckigen Kacheln gefliest, die unterschiedlich groß waren und eine Kantenlänge von mindestens 1,3 m hatten. Unter diesen Voraussetzungen normal zu gehen, war schlicht unmöglich. Aus humanitären Gründen wurde diese Foltermethode mittlerweile verboten.

Mich könnte jemand damit foltern, indem er mir drei Ohrenstäbchen zur Verfügung stellt. Ich brauche immer zwei. Es spielt keine Rolle, ob meine Ohren sie ebenfalls benötigen. Ich brauche sie und das ist entscheidend. Möglicherweise ist der Gebrauch eines Ohrenstäbchens – welches übrigens nicht in den Gehörgang eingeführt werden sollte, was ich aus Trotz dennoch wage – ausreichend, vollkommene Sicherheit hätte ich nur durch die Gegenprobe mit einem frischen Ohrenstäbchen. Und zwar in beiden Ohren. Daher zwei Ohrenstäbchen. Verwendete ich bloß eines, würde mich die Ungewissheit quälen, ob die Ohren nicht doch noch verunreinigt wären. Was sie im übrigen nie sind. Ein Ohrenstäbchen reicht also tatsächlich. Mir ist das allerdings egal.

Nicht egal ist mir die Gleichbehandlung derer, die keine eigene Stimme haben. Die auf unser Wohlwollen angewiesen sind. Die in dieser Gesellschaft zwar keinen Zweck erfüllen, aber nichtsdestotrotz ein Recht auf gleiche Chancen haben. Die Rede ist von unseren Kaninchen und dem verbliebenen Meerschweinchen, das übrigens seit dem Dahinscheiden des Der Nasenmann regelrecht aufblüht. Jedem Tierchen steht zum Abendessen jeweils eine Möhre zu. Nun sind Möhren selten genormt, was mich dazu veranlasst, jedes Stück Wurzelgemüse zu halbieren, um aus dem Puzzle der dann insgesamt sechs Möhrenbruchstücke drei gleichgroße Portionen zusammenzustellen. Gelingt dies nicht, müssen einfach mehr Möhrenhälften her. Das führt dazu, dass unser Stall bis zum Rand mit Möhren gefüllt ist. Jedes Tier erhält somit gleichberechtigt eine Ration von etwa 7,3 kg Möhren. So ist es ausgeglichen. Das ist mir wichtig.

Halbieren im Allgemeinen macht mich grundsätzlich irre. Denn ganz gleich, wie oft etwas halbiert wurde: Es geht immer noch einmal mehr. Wann hört man auf zu halbieren? Ja, praktisch stößt das Halbieren an seine Grenzen. Eine Gurke etwa lässt sich spätestens im Nanometerbereich vom versierten Hobbykoch nicht mehr weiter teilen. Aber theoretisch ist es möglich. Wieso spaltet man nicht einfach die zwei Hälften eines gespaltenen Atomkerns erneut? Mit einem winzigen Messer. Muss gehen. Ist ja etwas Fassbares. Aber nein. Man gibt sich mit der Kernspaltung zufrieden. Ich gehe gleich in die Küche und spalte Atomkernhälften.

Die Küche. Sie wurde vor kurzem Zeuge einer gar fürchterlichen Tat. Die Konsequenzen sind nachhaltiger Natur. Die leben im Alltag fort. Eine Minute der Unachtsamkeit beeinflusst eine gesamte Woche.

Wir hatten Besuch. Das kommt in letzter Zeit regelmäßig vor, was nicht etwa damit zusammenhängt, dass wir zuvor eingeigelte Eigenbrötler waren, sondern dass unser Freundeskreis schwerpunktmäßig außerhalb von Düsseldorf zu finden ist, was wir ihnen nicht verübeln können. Jeder Besuch setzte eine lange Anfahrt voraus, die auch wir uns sparen wollen würden. Nun ergab sich allerdings vor einigen Monaten, dass wir Menschen in unmittelbarer Umgebung kennenlernten und ich in diesem Zusammenhang die Vorzüge veganen Bio-Rotweins von Aldi. Da vergisst man vor lauter Ernährungsbewusstsein glatt, dass der Karton, der die sechs Flaschen beherbergt, unter unwürdigsten Bedingungen in einem kleinen Keller nördlich des Polarkreises von Babyrobben hergestellt wird.

Jedenfalls lernte ich so einen neuen und überaus verträglichen Rotwein kennen. Und weil man immer etwas zurückgeben soll, lernte Thees – so heißt er, während Sie ganz anders heißt – den guten Padkaffee von Aldi kennen. Zur vorgerückten Stunde. Um drei Uhr nachts. Ich registrierte es, sollte aber erst am kommenden Morgen von der Tragweite dieses Ereignisses erfahren.

Wir besitzen unzählige Kaffeetassen. Die meisten haben wir noch nie benutzt, weil sie die Menge eines großen Kaffees aus unserer Senseo-Maschine nicht aufnehmen können oder man ab einer bestimmten Füllhöhe vor der Fragestellung stünde, wie man die volle Tasse wieder entfernt, ohne die Hälfte ihres Inhalts zu vergießen. Denn anders als unsere vorherige Maschine lässt sich der Teil, aus dem der Kaffee in die Tasse fließt, in seiner Höhe nicht variieren. Aus diesem Grund haben sich insgesamt sechs Tassen als unsere Favoriten herauskristallisiert. Drei Paare. Thees bekam von der Frau, die in unserer Wohnung lebt, eine Tasse eines Paares zugewiesen. Und als ich am kommenden Morgen aufstand, um Kaffee zu machen, bemerkte ich, dass etwas anders war.

Wann immer es Kaffee gibt, bekommt die Frau, die in unserer Wohnung lebt, die eine und ich die andere Tasse eines zueinander passenden Tassenpaares. Nun hatte Thees allerdings eine Tasse benutzt, die mich frech, geradezu hämisch aus der Spüle grüßte. Jedes Tassenpaar für sich bildet eine Symbiose, eine Einheit, die Ausgeglichenheit und Sicherheit verbreitet. Würde ich nun anders als üblich anstatt der gelben und der roten bauchigen Kaffeetassen die noch unbenutzte gelbe und – aus Ermangelung der roten – eine beliebige andere nehmen, wäre das eine nicht zu verkraftende Störung des Tassengleichgewichts. Die gelbe Tasse ist bis zur Reinigung der roten Tasse zum Zuschauen verdammt.

Was den Tag und auch die noch kommenden Tage vollends ruinierte, war die Erkenntnis, dass Thees zwei gleiche Kaffeepads verwendet hatte bzw. verwenden ließ. Ich gönne mir jeden Morgen eine große Tasse Kaffee, die sich aus jeweils einem normalen und einem starken Kaffeepad zusammensetzt. Beide Packungen leeren sich also gleichmäßig, geradezu simultan. Ganz davon abgesehen, dass das Ganze nun – man sehe sich das entsetzliche Titelbild dieses Beitrags an – eine optische Katastrophe ist, wird die eine Packung früher leer sein und ich mir daher einen Kaffee mit zwei gleichen Pads machen müssen.

Diesen Tag, an dem es so weit sein wird, werde ich Thees in Rechnung stellen, denn er kann nur schlecht werden. Ich werde ihn wahrscheinlich an einem Tag am Laufengehen hindern oder ihn regelmäßig anrufen und stundenlang ans Telefon binden. Damit dürfte seine Schuld beglichen sein. Doch bis dahin werde ich Morgen für Morgen aufstehen und in die Küche gehen, um dort stets aufs Neue kopfschüttelnd vor den Kaffeepackungen die unterschiedlichen Kaffeepad-Stände zu betrauern. Es ist zwar nur eine Differenz von ein bis zwei Zentimetern. Je nach Bundesstaat in den USA macht das allerdings schon den Unterschied zwischen Legalität und Strafbarkeit aus. Verklemmtheit ist wohl auch neurotisch.


Das mit den Robben ist natürlich ausgemachter Unsinn, allerdings insofern ein passendes Gleichnis für Zwänge, als alles bio-vegane healthy food über Gebühr für ihre Nachhaltigkeit und Fairness gehypt wird, während die Verpackung oftmals wenig umwelt-, tier- und menschenfreundlich daherkommt. So bin ich nach wie vor fasziniert davon, dass der Bio-Blumenkohl einer Supermarktkette in Cellophanfolie eingewickelt ist, der gewöhnliche Blumenkohl hingegen nicht. Rational nicht zu erklären.

Kommen wir nun zu etwas vollkommen anderem: Facebook.

5 Kommentare

  1. Sehr schön! Ich kann einzelne Socken nicht ertragen. Das ging jetzt fast 11 Jahre mit Kindern gut, denn immer taucht die zweite wieder auf. Aber seit zwei Wochen hängt eine einzelne im Keller auf der Leine. Ich fürchte ich muss sie bald in die Mülltonne entsorgen, denn den Anblick ertrage ich nicht mehr lange. Was mache ich dann aber, wenn nach Leerung der Mülltonne die zweite Socke wieder auftaucht?

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