Weihnachtsmärchen III – Showdown auf dem Pott

Ich wache irgendwann gegen 11 Uhr auf. Eigentlich wollte ich um 7 Uhr aufstehen, um laufen zu gehen, aber mein Wecker hat wohl vergessen, was seine Aufgabe ist. Auch die Katze wacht auf. Sie stinkt nach Knoblauch, was mir wieder die Bilder von letzter Nacht ins Gedächtnis ruft. Ich hoffe, dass die Frau, die in unserer Wohnung lebt, nicht auf die Idee kommt, doch noch weiter nachzuhaken, warum ich so lange weg war. Das würde kein gutes Ende nehmen. Und obwohl es mir widerstrebt und ich Angst habe, dass sie tatsächlich antwortet, frage ich die Katze:

„Wie lange habt ihr heute Nacht denn noch gemacht?“

„Heute Nacht?! Vorgestern!“

Habe ich so lange geschlafen? Ich möchte aufstehen, merke aber, dass mein Körper nicht so recht reagieren will. An meinen Hand- und Fußgelenken spüre ich breite Riemen. Jemand hat mich ans Bett geschnallt! Im Flur höre ich die Frau, die in unserer Wohnung lebt, telefonieren. Ich verstehe kein Wort und werde langsam panisch. Ich möchte aber auch nicht nach Hilfe rufen, weil es mir unangebracht vorkommt. Auch aus Rücksicht auf die Katze. Die Frau, die in unserer Wohnung lebt, steckt den Kopf durch den Türspalt.

„Ach, vergessen Sie es. Er ist wach. Ich schnall ihn dann mal los, Herr Doktor.“

Was ist hier los? Ich habe durch das lange Pennen Kopfschmerzen und die aktuelle Situation trägt nicht gerade zur Besserung bei.

„Warum bin ich aufs Bett geschnallt?!“

„Ja hör mal!“, antwortet sie spürbar empört. „Du hast mir neulich irgendwas von einbrechenden Nashörnern erzählt, kommst nach Stunden erst wieder und faselst am nächsten Morgen von streitenden Haustieren, die erstaunlich gut über das Weltgeschehen informiert sind. Außerdem hast du gegen das Räuchermännchen gewettert. Das ich dir übrigens geschenkt habe. Wenn es dir nicht gefällt, dann sag es ruhig. Aber es einfach wegzuwerfen…auf jeden Fall habe ich mit einem Arzt von der Uniklinik entschieden, dich erstmal zu fixieren.“

„Ich habe es weggeschmissen?“ 

„Es ist auf jeden Fall weg.“

Das ganze ist mir ziemlich unangenehm, weil ich mich an nichts derartiges erinnern kann.

„Welcher Tag ist heute?“

„Mittwoch.“

Scheiße. Morgen ist Weihnachten. Ich musste doch noch ein Geschenk kaufen. Ich steige aus dem Bett und betrete den Flur. Meine Beine fühlen sich an als hätte ich nicht nur zwei Tage sondern gar Monate verpennt. Der Blick nach draußen bestärkt mich in meiner Annahme. Es scheint Frühling zu sein. Ich muss mich fertig machen und schnell zu *** fahren, um das noch fehlende Geschenk für die Frau, die in unserer Wohnung lebt, zu kaufen.

Auf dem Klo treffe ich einen Bekannten wieder, auf den ich gern verzichtet hätte. Hinter dem Katzenklo kauert das Räuchermännchen. Es sieht unglücklich aus.

„Was machst du denn hier?“ 

„Ich musste aufs Klo, aber komme nicht dran.“, piepst es kleinlaut.

„Du hast ein Verdauungsystem?!“

„Nein, aber wenn dir jemand einen glühenden Duftkegel in den Bauch stellt, ist Sodbrennen vorprogrammiert. Außerdem muss ja das, was übrig bleibt, auch mal wieder raus. Bin dir sogar noch nachgelaufen.“

Das wird dann wohl der Ursprung des Geräusches von herunterfallendem Holz gewesen sein. Das Männchen muss vom Regal gesprungen sein.

„Ach du warst das. Das Geräusch kam mir gleich komisch vor. Übrigens ebenso wie der Flur, der einfach nicht enden wollte.“

„Ja. Lustig, nicht wahr?“

„Es hat mich irritiert. Ebenso die sprechenden Tiere.“

„Sprechen können die alle. Ihr versteht die nur nicht.“

„Kommt jetzt ein esoterischer Vortrag? Da stehe ich nämlich nur bedingt drauf.“

„Nein, es geht darum, dass man einige Dinge besser durch die Augen und Gedanken von jemand anderem betrachten sollte, um sie besser verstehen zu können.“, beginnt das Männchen zu erklären. 

Ich rufe mir noch einmal das Gespräch mit den Tieren ins Gedächtnis. Irgendwie scheint es da tatsächlich einige Parallelen zu geben. Konflikte müssen gelöst, Kompromisse gefunden, der Standpunkt des jeweils anderen verstanden werden. Nur welche Lehre man daraus ziehen kann…keine Ahnung.

„Die Viecher zoffen sich doch genauso wie Menschen. Was sollte man daraus lernen.“, frage ich das Holzprodukt.

„Nein. Sie streiten anders. Sie streiten über konkrete Dinge, die akut sind und reagieren direkt aufeinander. Menschen streiten oft über abstrakte Dinge, die sie nicht einmal direkt betreffen und entladen ihren Ärger oftmals bei Menschen, die nichts damit zu tun haben.“

„Flüchtlinge?“

Das Räuchermännchen nickt mit dem ganzen Körper. Es bleibt ihm nichts anderes übrig, weil es nunmal aus wenig flexiblem Holz gedrechselt wurde.

„Zum Beispiel. Kennst du einen?“

„Nein, noch nie einen gesehen.“

„Natürlich nicht. Die sehen aus wie Menschen. Verrückt, oder? Hab ich dir den Spruch mit dem Gehirn schon gedrückt?“

Es hat. Am Abend vor dieser verrückten Nacht mit den Tieren. Jetzt muss ich mich schon wieder beleidigen lassen.

„Aber wichtiger“, fährt es fort, „ist die Tatsache, dass wohl die allermeisten der Ankömmlinge vernünftige Menschen sind. Aber noch vor der Ankunft und ohne, dass man je einem begegnet ist, werden sie unter Generalverdacht gestellt. Da beklagen sich Leute, die absolut keinen Nachteil haben werden.“

„Das sind ja auch meine Gedanken, aber wo ist der Unterschied zu dem Streit unter den Tieren?“ 

Das Männchen mustert mich nachdenklich und zögert mit der Antwort.

„Glaubst du…die Tiere hätten ihren Zwist alleine geregelt?“

Blöde Frage.

„Ja, natürlich.“

„Siehst du, bei den Menschen habe ich da so meine Zweifel. Gerade weil sie sich wegen so wenig greifbarer Dinge an die Gurgel springen.“

„Tiere sind ja auch alle mehr oder weniger gleich. Da regelt sich das…“

Das Räuchermännchen unterbricht mich und zappelt unruhig.

„Meerschweinchen und Kaninchen haben eine grundlegend verschiedene Körpersprache…“

„Ja, ich weiß.“, lüge ich.

„…und“, fährt das Räuchermännchen fort, „haben sich vermutlich anfangs öfter mal gekeilt.“

„Ja…“ 

Ich merke langsam worauf es hinaus möchte.

„Mittlerweile verstehen die sich aber. Das weiß ich, weil ich denen seit Nikolaus immer mal wieder zugehört habe. Und wenn es Probleme gibt, dann werden die irgendwie aus der Welt geschafft. Aber eben erst, wenn sie tatsächlich auftreten. Weder Meerschweinchen noch Kaninchen haben Vorurteile.“

Nicht schlecht für etwas, das aus einem Ast geschnippselt wurde. Erstaunlich tiefsinnig. Der letzte Satz kann aber trotzdem nicht ganz stimmen.

„Die fette Weiße hat uns aber wegen unserer Religionen ausgelacht.“, schmolle ich.

„Es ist ja auch urkomisch. Ihr habt euch unfassbar komplexe Konzepte ausgedacht, um dies und das zu erklären, was dann noch nicht einmal einwandfrei funktioniert, weil insbesondere die christliche Kirche den Sprung ins dritte Jahrtausend teilweise verpasst hat. Und das ist nur eine Religion von vielen. Je nach Vorliebe kann man sich der einen oder anderen zugehörig fühlen. Was auch eigentlich vollkommen in Ordnung ist. Wenn es nicht ins Radikale kippt. Und das bedeutet nunmal auch, zu akzeptieren, dass jemand eventuell keinem religiösen Glauben anhängt.“ 

„Man müsste mal Gott fragen, wie er dazu steht.“, antworte ich mit hoffnungsvollem Blick.

„Da bin ich der falsche Ansprechpartner. Ich bin ein Holzmännchen. Ich kenne andere, die sitzen schon eher an der Quelle.“

Das wäre auch ein zu großer Zufall gewesen. Es ist ja schon unwahrscheinlich genug, dass ich zu Nikolaus ein Räuchermännchen geschenkt bekomme, das mir eine surreale Nacht mit meinen Haustieren beschert und dann auch noch philosophische Vorträge hält. Eine Sache brennt mir allerdings noch auf der Seele.

„Wofür sollte das Ganze hier jetzt eigentlich gut sein? Warum hat es mich getroffen?“

Das Männchen zuckt mit den Achseln.

„Es kam mir so vor, als würdest du in einer kleinen kreativen Tiefphase stecken. Also konnte es nicht schaden, wenn du ein wenig verstrahlten Input bekommen würdest, zumal ich finde, dass du mal wieder über ernste Themen schreiben solltest.“

„Jeder Beitrag von mir enthält an mehreren Stellen irgendeine Form von Gesellschaftskritik. Man muss sie nur verstehen.“

„Trotzdem! Deine nachdenklichen Artikel gefallen mir persönlich etwas besser. Aber wer bin ich schon, nicht wahr?!“

Es scheint eingeschnappt zu sein und ich belasse es dabei.

„Und der Flur?“

„Ja, das war ich auch.“, antwortet es wieder ein wenig ruhiger.

„Warum?!“, entfährt es mir, weil diese Sache völlig sinnfrei schien.

„Fingerübungen sozusagen, damit ich nicht einroste. Übrigens habe ich den Flur nicht länger gemacht.“ 

„Nicht? Der kam mir endlos vor.“

„Nein, ich habe dich kürzer gemacht. Sah lustig aus. Und jetzt musst du mich echt leeren. Aber bitte nicht im Katzenklo. Das stinkt. Da gehe ich nicht mehr rein. Die hat nämlich ’ne Knoblauchzehe gefuttert und…“ 

„Ja, sie hat es mir erzählt.“, antworte ich nüchtern.

„Bei dir weiß man ja nie, ob sowas auch hängenbleibt. Die Frau, die in eurer Wohnung lebt, kann da ein Lied von singen.“

„Nicht frech werden! Du warst mir am Anfang extrem unsympathisch und noch bin ich der Mann, der jederzeit die Spülung betätigen könnte.“

Wir verfallen in Schweigen und schauen uns an. Wirklich unheimlich wirkt es jetzt nicht mehr auf mich. Vor allem wenn man weiß, dass es auf Toilette muss. Ob alle Räuchermännchen so ticken? Vielleicht sollten wir ihm jemanden zur Gesellschaft kaufen. Andererseits kann man mich tatsächlich einliefern, wenn ein eventuelles zweites Männchen auch so drauf ist wie das schon vorhandene. Die Kerzen auf dem Regal, die noch nie entzündet wurden und nur zur Deko dort stehen, müssen vorerst reichen. Das ist übrigens ein Aspekt der Wohnungseinrichtung, der mir vor einigen Jahren noch vollkommen fremd war.

Ich schütte die Asche aus dem Inneren des Männchens ins Klo und ziehe ab. Bevor ich die Toilette verlasse, frage ich das Räuchermännchen, ob es noch etwas zu sagen hat. Es antwortet nicht und zeigt auch sonst keine Reaktion. Ich drehe vorsichtig den unteren Teil, damit die für mich nicht ausmachbaren Fußspitzen des Männchens auch wirklich nach vorn zeigen. Eine ertönende Fanfare signalisiert mir, dass die richtige Stellung nun erreicht ist. Weiß der Geier, wo die herkommt. Das Männchen zeigt noch immer keine Reaktion. Nachdenklich stelle ich das Männchen an seinen ihm angestammten Platz.

Jetzt steht es da, ist verstummt und blickt leer in den Raum. Beobachtet es uns? Passt es auf uns auf und sucht uns mit seiner Weisheit heim, wenn es notwendig ist? Haben die Ereignisse der vergangenen Tage tatsächlich stattgefunden? Wie erkläre ich der Frau, die in unserer Wohnung lebt, wo das Männchen gewesen ist? Egal ob reale Ereignisse oder nicht: Die Gedanken darüber sind real. Und morgen ist Weihnachten. Einen besseren Zeitpunkt, sich von einem Räuchermännchen die Welt erklären zu lassen, dürfte es kaum geben.

Hier geht’s zum zweiten Teil!

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