Die Frau, die in unserer Wohnung lebt, und ich befinden uns im Urlaub. Das hat zwei Vorteile: Ich bin im Urlaub und sie ist im Urlaub. Da man Urlaub nutzt, um mal etwas ganz anderes zu machen, haben wir uns vorgenommen, an jedem Tag etwas zu unternehmen. Das nehmen sich vermutlich 80% aller Mallorcaurlauber vor. Und ja, ich weiß, dass Mallorca seine durchaus schönen Seiten hat, aber ich spiele darauf an, dass man „unternehmen“ sehr verschieden verstehen kann. Ich war nie der Partyurlauber und auch wenn es spießig anmutet, mag ich die Abgeschiedenheit etwa eines wenig frequentierten Waldes. Denn auch dort kann man etwas unternehmen. Mit der Zweisamkeit in entlegenen Wäldern habe ich nun ein etwas zweideutigtes Fass geöffnet. Es geht ums Wandern, ihr Ferkel!
Wir sind gerade in der Eifel angekommen und zu unserer eigenen Überraschung haben wir unseren Vorsatz, diesen Urlaub aktiv zu bestreiten, noch nicht über Bord geworfen und haben uns sofort ins Abenteuer gestürzt. Wir gehen forschen. Andere nennen es „wandern“, aber das ist uns zu wenig. Uns erwartet die Wildnis…und die Wildnis uns.
Von der ersten Sekunde an ist die Spannung kaum zu ertragen, denn ich weiß nicht, ob ich den Wagen abgeschlossen habe. Dadurch, dass wir mit einem Familienmitglied den Wagen getauscht haben, weil wir doch arge Zweifel hegen, ob unser altes Viech das Auf und Ab der Eifel verkraftet hätte, ohne uns nicht irgendwann völlig entkräftet das Getriebe auszuhusten, verfügen wir über einen fernzubedienenden Schlüssel. Ich gehe also ein paar Schritte zurück, bis ich „unseren“ Wagen sehe, und drücke die Fernbedienung. Die Blinker blinken, wie es ihnen auch zu empfehlen ist, und ich weiß: Dieses Auto ist nun verschlossen.
„Das war sehr unromantisch.“, gibt mir die Frau, die in unserer Wohnung lebt, zu verstehen.
„Das hat der Schließvorgang eines Automobils so an sich.“, entgegne ich.
Insgeheim verachte ich mich allerdings dafür, dass ich die zwanzig Meter nicht einfach zum Auto zurückging, um es manuell, gefühlsecht und irgendwie urtümlich abzuschließen. Wie es unsere Vorfahren taten. Nostalgische Gefühle überkommen mich, während wir auf einen Weg abbiegen, der – was man so nahe am Parkplatz auch nicht anders erwarten darf – nicht unbedingt bevölkert aber immerhin besucht ist. Wir lehnen jede Form des Massentourismus ab, wohl wissend, dass wir in irgendeiner Form in diesem Moment Teil dessen sind.
Hier in der Eifel, so nahe am Parkplatz, scheinen viele es unglaublich eilig zu haben. Davon zeugen Trampelpfade abseits des eigentlichen Weges. Es ist paradox, denn wohin möchte man so eilig hier am Beginn eines ca. zweistündigen Rundweges, den wir allerdings ein wenig verlängern werden?
Wir hatten uns vorgenommen, die Zeit einfach zu ignorieren. Wir machten die Vorgabe, uns an keine Vorgaben zu halten. Kämen wir erst im Dunkeln wieder zu unserem Ferienhäuschen zurück, dann wäre das der Luxus, den wir uns in einem Urlaub ohne Fernsehen und Internet gönnen wollen. Es hat ein wenig was vom Spielen mit den Nachbarskindern. Irgendwann sollte man zwar zuhause sein, aber in zuverlässiger Regelmäßigkeit interpretierte man diesen Zeitpunkt äußerst großzügig. In etwa so soll es auch hier sein. Mit der Einschränkung, dass wir unsere Handys mitnahmen, was vor allem daran lag, dass ich einen Anruf erwartete. Als Kind erwartete ich selten beim Spielen einen Anruf.
Wir versuchen, die jungen Leute auf einer Bank, sich im Stockkampf gegenseitig massakrierende Kinder und die erstaunlich desinteressierten Eltern so schnell es geht hinter uns zu lassen und wählen einen Weg, der steile Anstiege verspricht. Ein paar Meter über uns steht ein kleiner Junge, sein Vater etwas weiter unten. Der kleine Junge verkündet gerade, dass er nun keine Lust mehr hat weiterzugehen, und ordnet seinen baldigen Abtransport nach Hause an. Der Vater lacht. Der Junge schmollt. Er wird weitergehen müssen. Es wird ihm nicht schaden.
Wir erreichen ein Plateau, das mir eigenartigerweise sehr bekannt vorkommt. Ein paar hundert Meter entfernt steht ein Turm. Auch ihn meine ich zu kennen. Als wir uns ihm nähern, bekomme ich das Gefühl, dass ich tatsächlich schon mal hiergewesen sein muss. Es kann natürlich sein, dass es in der Eifel mehrere solcher Türme gibt. Und auf einmal, während die Frau, die in unserer Wohnung lebt, nach einer Möglichkeit weiterzuwandern sucht, spricht mich der Turm an.
„Kennen wir uns?“
„Ich bin mir nicht sicher. Es gibt zwei Möglichkeiten. Entweder war ich mal mit meiner Familie hier oder mit meiner Grundschulklasse im Schullandheim.“, antworte ich.
„Du meinst das Landschulheim.“
„Tut mir leid, ich erkenne den Unterschied zwischen beiden Bezeichnungen nicht an.“
Wenn ich schonmal hier war, muss es mittlerweile gut 20 Jahre her sein. Nachdem wir den Turm bestiegen und stillschweigend beschlossen haben, dass wir auf die Menschen, die dort Selbstportraits von sich machen, verzichten können, suchen wir uns einen schmalen Pfad, der irgendwo im Wald verschwindet, und folgen ihm. Hier ist es ruhig.
Wir steigen den Weg immer weiter hinab und nähern uns einem See. Einem Maarsee. Entgegen meiner langjährigen Annahme als führender Geologiestudent ohne Abschluss, dass ein Maar automatisch ein See und immer in einem Vulkankrater zu finden sei, ist ein Maar lediglich eine durch Vulkanismus entstandene Senke. Wenn sie sich mit Wasser füllt, wäre sie ein Maarsee. Aber es gibt sie auch ohne Wasser. Toll! Wieder was gelernt.
Am tiefsten Punkt des Rundweges stoßen wir wieder auf Zivilisation, die wir so schnell es geht wieder hinter uns lassen. Zwischenzeitlich lassen wir uns von einer geführten Wanderung überholen und lernen, dass der Niklas wirklich ganz hervorragende Noten in der Schule schreibt. Wir wissen nicht, wer nicht Niklas ist. Aber er scheint gute Noten zu schreiben. Muttis ganzer Stolz.
Während der Weg langsam wieder steiler wird, schauen wir der Wandergruppe noch eine Weile hinterher und begutachten ihren Wanderstil.
„In der Micky Maus /Mickey Mouse gab es eine Weile mal in jeder Ausgabe eine Seite des Schlauen Buchs. Auf einer Seite wurde erklärt, wie man möglichst kraftsparend lange Strecken überwinden kann. Ein Indianer machte es vor.“, erkläre ich keuchend der Frau, die in unserer Wohnung lebt.
„Und?“, schnauft sie zurück.
„Die da vorne…die laufen schlecht! Die machen große Schritte und…die Fußspitzen…die zeigen leicht nach außen. Das ist anstrengender.“
„Und du läufst wie der Indianer?“
„Ja.“
„Und warum schnaufen die da vorne im Gegensatz zu dir nicht?“
Darauf habe ich keine Antwort, entgegne aber, dass die Sache mit indianischen Weisheiten manchmal sehr kompliziert ist. Sie glaubt mir nicht.
Irgendwann erreichen wir das Plateau von vorhin. Diesmal allerdings von einer anderen Seite. Um nicht denselben Weg wieder zurück zum Parkplatz zu gehen, nehmen wir uns vor, noch einen zweiten Maarsee zu umwandern. Für alle, die vorhin nicht aufgepasst haben: Ein Maarsee ist eine mit Wasser gefüllte Senke vulkanischen Ursprungs. Ohne Wasser hieße sie nur Maar. Das war mir bis vor einem Jahr neu, weil ich das Wort „Maar“ in Bezug zum Wort „Meer“ setzte. Es schien mir naheliegend. Ich lag falsch.
Während wir den Maarsee (!) umrunden, wird es ruhig. Wie aus dem Nichts setzt die Dämmerung ein, die Natur verstummt, irgendwo in der Ferne hört man tiefe Glockenschläge. Der Frau, die in unserer Wohnung lebt, scheint das alles normal vorzukommen, aber ich bin in Alarmbereitschaft. Und plötzlich sehe ich im Augenwinkel, wie sich mehrere Kreaturen aus dem Zwielicht lösen und die Verfolgung aufnehmen. Ich lasse mir nichts anmerken und versuche ohne Panik die Frau, die in unserer Wohnung lebt, zu informieren.
„DREH DICH NICHT UM! LAUF!!!“, kreische ich ihr ins Ohr.
Sie dreht sich um. Warum drehen sich Menschen immer um, wenn man ihnen sagt, sie mögen es nicht tun. Eigenartigerweise ist sie nicht beunruhigt. Steckt sie mit diesen Wesen unter einer Decke? Ich gehe hinter ihr in Deckung.
„Hast du davor Angst?“, fragt sie mich stirnrunzelnd.
„Mach sie weg! ISS SIE AUF!“
„Das sind Ziegen.“
„Warum laufen die hier so frei rum?!“, wimmere ich hinter ihr, während ich über ihre Schulter die Ziegen im Auge behalte.
Ich warte ihre Reaktion nicht ab, greife in den Rucksack, fische nach den Salamettis, schleudere sie in Richtung der Ziegen und werfe mich hinter einen Busch. Nach einigen Sekunden der Stille trotten die Ziegen an mir vorbei. Kinder kommen ihnen entgegen und streicheln sie, während die Frau, die in unserer Wohnung lebt, die drei Salamettis wieder einsammelt.
Ich stehe zufrieden nickend auf. Wie es scheint, laufen im gesamten Krater Ziegen umher. Wir haben diesen ersten Angriff erfolgreich abgewehrt. Im Mittelalter wurden Ziegen gelegentlich als Folterinstrument eingesetzt. Wer weiß, wozu die noch fähig sind?
Als wir im Halbdunkel wieder im Ferienhäuschen ankommen, gehe ich in den Schuppen, um Feuerholz für den Ofen zu holen. Beim Verlassen des Schuppens schrecke ich ein kleines Vögelchen auf. Ein Ereignis, das ich der Frau, die in unserer Wohnung lebt, umgehend mitteile.
„Da war gerade ein gelber Vogel. Ist weggeflogen.“
„War bestimmt ein Taxi.“
„Ja…“
„Oder ein Postvogel.“
Ich gehe nicht weiter darauf ein. Wir legen uns aufs Sofa, um ein wenig zu lesen. Durch die mehrstündige Wanderung sind wir allerdings einigermaßen geplättet. Ich beobachte, wie ihr Buch langsam zu sinken beginnt. Noch bevor ich mich darüber freuen kann, dass ich länger mit dem Wachbleiben durchgehalten habe, bin auch ich eingeschlafen.
Es bleibt spannend! Bleibt gespannt! Stay tensioned! Bucht das Gesicht!
[…] „Die Indianerlauftechnik…sie funktioniert bei dieser Steigung nicht. Und der Luftdruck….Menschen sollten nicht so schnell an Höhe gewinnen.“, keuche ich die Frau, die in unserer Wohnung lebt an. […]
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